Therapeutische Zensur

Thomas S. Szasz

Der hohe Stellenwert, den die Redefreiheit (freedom of speech) im politischen Leben Amerikas genießt, ist eines der charakteristischsten Merkmale dieser Gesellschaft. In vielen europäischen Demokratien dagegen gehen die Menschen wie selbstverständlich davon aus, dass ihre Freiheit die strafrechtliche Verfolgung bestimmter verwerflicher Ansichten, wie zum Beispiel die Leugnung des Holocaust, erforderlich mache. In den Vereinigten Staaten wäre dies jedoch eine klare Verletzung des ersten Verfassungszusatzes[1]. Allerdings sind unserer Meinungsfreiheit auch Grenzen gesetzt. Am bekanntesten ist das Verbot schriftlicher oder mündlicher Meinungsäußerungen, die geeignet sind, »eine konkrete und gegenwärtige Gefahr hervorzurufen, die zu verhindern der Kongress ein Recht hat«[2]. Abgesehen von diesem Kriterium und den Grenzen die der Verbreitung von »obszönen oder pornografischen Äußerungen und Publikationen« und Äußerungen im kommerziellen Bereich gesetzt sind, schafft der erste Verfassungszusatz anscheinend einen großen Raum, in dem wir uns frei äußern und die Stimmen anderer Menschen uns erreichen können.

Ich sage »anscheinend«, weil wir in den Vereinigten Staaten es als selbstverständlich voraussetzen, dass die Regierung das Recht und sogar die Pflicht hat, Menschen die Äußerung von Meinung zu verbieten, die als das Produkt einer »psychischen Erkrankung« gelten. Ein amerikanischer Bürger hat das Recht, den Holocaust zu leugnen, er hat aber nicht das Recht, seine eigene Identität zu leugnen und zu behaupten, er sei Jesus. Eine Person, die dies tut, wird als schizophren diagnostiziert, als »gefährlich für sich und andere«, und in einem »Krankenhaus« eingesperrt. Diese Art des Freiheitsentzugs wird nicht als Verletzung des ersten Verfassungszusatzes angesehen, weil die Verhängung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen als ein zivil- und nicht als ein strafrechtliches Verfahren betrachtet wird, und dessen angeblicher Zweck Therapie und nicht Strafe ist.

Das ist den meisten bekannt. Weniger bekannt ist eine Geschichte, in der die organisierte Psychiatrie für eine andere Form der Beschränkung freier Meinungsäußerung verantwortlich war, und zwar für eine, die ich als »therapeutische Zensur« bezeichne.

The Titicut Follies

In den 1960er Jahren erhielt der Dokumentarfilmer Frederick Wiseman für 29 Tage eine Genehmigung für Dreharbeiten im Bridgewater State Hospital, einer Anstalt für kriminelle Geisteskranke des Staates Massachusetts. Der Film, den er dort drehte – es war sein erster Dokumentarfilm –, wurde 1967 mit großem Erfolg auf dem New York Film Festival gezeigt[3]. Der Generalstaatsanwalt von Massachusetts untersagte weitere öffentliche Aufführungen und der Oberste Gerichtshof des Staates entschied, dass der Film einen Eingriff in die Privatsphäre der Anstaltsbediensteten und Patienten darstellte. Der Film wurde verboten. Heute wird The Titicut Follies[4] – falls man sich überhaupt noch an diesen Film erinnert – mit der Begründung abgelehnt, er zeige eine unmenschliche Psychiatrie, die wir dank Drogen und Deinstitutionalisierung längst hinter uns gelassen hätten.

The Titicut Follies ist und war gedacht als ein Enthüllungsbericht, als filmisches Äquivalent zu investigativem Journalismus. Die Behauptung, dass er die Privatsphäre der Bediensteten verletzt hätte, ist so absurd wie die Behauptung, ein Zeitungsbericht über das widerwärtige Verhalten eines Politikers verletze dessen Privatsphäre.

Im Mai 1987 war The Titicut Follies Gegenstand einer öffentlichen Diskussion an der University of Massachusetts. Der Rezensent der New York Times schrieb damals: »Es war eine der seltenen Aufführungen des Films, der aufgrund einer richterlichen Anordnung nur Fachleuten aus Justiz, Sozialpädagogik, Psychiatrie, Psychologie und diesen verwandten Gebieten gezeigt werden darf. … Ein Dokumentarfilm … der vor 20 Jahren gedreht und prompt verboten wurde, hat bewiesen, dass seine Macht, Debatten auszulösen, nicht nachgelassen hat. … [Es] ist der einzige amerikanische Film der jemals aus anderen Gründen als denen der Obszönität oder der nationalen Sicherheit zensiert wurde.«

Der Titel bezieht sich auf eine jedes Jahr gemeinsam von Insassen und Wärtern gestaltete Varieté-Show. Nach der Aufführung von 1987 sagte Wiseman in einem Interview: »Wenn tatsächlich jede Meinungsäußerung durch den Erste Verfassungszusatz geschützt ist, dann hat ein Journalist auch das Recht über die Bedingungen in einem Gefängnis zu berichten«. Trotzdem lehnte es der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten zwei Mal ab, Wiseman anzuhören. Laut Times »sagte Blaire Perry, einer von Wisemans Anwälten, der bei der Anhörung zugegen war: ›In 20 Jahren hat sich nicht einer der Patienten oder dessen Familie gegen die Aufführung des Films ausgesprochen.«

Heute befindet sich das »Krankenhaus« in einem modernen Gebäude. »Nach allem, was man hört«, versicherte uns der Reporter der Times, »ist das Personal besser ausgebildet und es gibt mehr rechtlichen Schutz für die Patienten, von denen viele nie eine Straftat begangen haben. Aber das Krankenhaus ist weiterhin mit Stacheldraht umgeben und 220 Gefängniswärter versehen dort ihren Dienst. … Es gibt 25 Krankenschwestern und 49 Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter für 436 Patienten, sagt Mary McGeown, eine Sprecherin der Gefängnisbehörde. Bridgewater ist immer noch überfüllt, unterbesetzt und unterfinanziert.«

Wofür ist das Personal besser ausgebildet? Egal, wie viele Psychiater, Psychologen, Krankenschwestern und Sozialarbeiter in einem solchen »Krankenhaus« arbeiten – sie sind alle Gefängniswärter.

Am 6. April 1993 – 26 Jahre nach seinem Verbot – wurde The Titicut Follies im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt. Der Filmkritiker Walter Goodman schrieb dazu in der New York Times:

Frederick Wisemans bemerkenswerter erster Dokumentarfilm, einem schonungslosen Bericht über seinen Besuch des Bridgewater State Hospital für kriminelle Geisteskranke, wurde verboten. … Wie in allen seinen Reportagen erzählt Wiseman nicht selbst. Er lässt die Bilder seine Geschichte erzählen – und seine Bilder waren nie eindringlicher. Am Anfang und am Ende des 90-minütigen Films ist eine chorus line zu sehen, die Bestandteil einer jährlich stattfindenden Show mit dem Titel »The Titicut Follies« war. Man muss raten, wer von diesen kostümierten Darstellern Insasse und wer Wächter ist. … Ohne die Ärzte zu Wort kommen zu lassen, bittet ein Mann mit einer glühenden, aber schlüssigen Rede um seine Zurückverlegung in ein normales Gefängnis. … Viele der Begegnungen sind auf beunruhigende Weise mehrdeutig. Ein Psychiater … befragt einen Insassen über seine sexuellen Neigungen: »Wofür interessieren Sie sich mehr, für große oder für kleine Brüste?« Arbeitet er oder ist er nur neugierig? Die unerträglichste Szene zeigt eine Zwangsernährung. Der Arzt raucht eine Zigarette, während er einen langen Gummischlauch in ein Nasenloch des Patienten einführt und eine Flüssigkeit in einen Trichter gießt; man möchte laut rufen, dass er die immer länger werdende Asche seiner Zigarette auf den Boden abklopfen solle, bevor sie noch in den Trichter fällt.

Die Entmenschlichung verrückter Menschen

Im Gegensatz zu Einer flog über das Kuckucksnest war The Titicut Follies ein einzigartiger Film. Er zeigte in fesselnden Bildern detailliert die Entwertung, Verfolgung und Entmenschlichung von sogenannten Verrückten durch sogenannte psychiatrische Fachleute. Wegen dieses Vergehens verhinerte das amerikanische psychiatrische Establishment mit Unterstützung des amerikanischen juristischen Establishments, dass der Film weiterhin gezeigt werden konnte. Diese beispiellose Verletzung des ersten Verfassungszusatzes ist der juristischen und psychiatrischen Aufmerksamkeit gänzlich entgangen.

Heute ist das Bridgewater State Hospital eine »Einrichtung des Gesundheitswesens«, die der medizinischen Fakultät der University of Massachusetts angegliedert ist. 2003 erhielt es durch die Nationale Kommission für das Gesundheitswesen im Strafvollzug (National Commission on Correctional Health Care) eine Auszeichnung als »Einrichtung des Jahres«. Im selben Jahr erschien ein Artikel des für Veröffentlichungen dieser Organisation Verantwortlichen, Jaime Shimkus, in dem kurz die Geschichte des Krankenhauses dargestellt wird, ohne jedoch an irgendeiner Stelle The Titicut Follies oder die Zustände, die in dem Film beschrieben werden, zu erwähnen.

Zur Zeit der Irrenanstalten war die Wahrheit über die Psychiatrie offensichtlich: das Irrenhaus war eine Schlangengrube, und Schlangengruben waren beschränkt auf Irrenanstalten. Die heutigen Schlangengruben sind verstreut über die ganze Gesellschaft und verborgen hinter einer Fassade aus pseudomedizinischen Diagnosen, Therapien, treatment-advocacy centers[5], Bündnissen zur Unterstützung psychisch Kranker (alliances for the mentally ill) und der Umbenennung der Irrenanstalten in »Einrichtungen des Gesundheitswesens« (health care facilities).

Das Original dieses Textes mit dem Titel »Therapeutic Censorship« erschien in The Freeman, Mai 2002, S. 25–26Externer Link. Wir danken Thomas Szasz und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.


[1]

Der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten lautet: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.« (Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen. Quelle: WikisourceExterner Link), d.Ü.

[3]

Der Film ist im Internet unter http://www.liveleak.com/view?i=a97_1233076955Externer Link verfügbar. d.Ü.

[4]

"Titicut" ist der Name, den die Ureinwohner vom Stamm der Wampanoag für den in der Nähe des Krankenhauses vorbeifließenden Taunton River verwenden. "Follies" bedeutet so viel wie "Verrücktheiten". d.Ü.

[5]

Treatment Advocacy Center ist eine im Jahr 1998 durch den Psychiater E. Fuller Torrey gegründete Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, rechtliche und andere Hindernisse für die Behandlung psychischer Erkrankungen zu beseitigen, unter anderem auch jene gesetzlichen Regelungen, die psychiatrische Zwangsmaßnahmen beschränken. s.a. WikipediaExterner Link, d.Ü.


Letzte Aktualisierung am 10.05.2015
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