Eine Kur für den therapeutischen Staat

Thomas Szasz im Interview über die Medizinalisierung des us-amerikanischen Lebens

Jacob Sullum, Juli 2000

Allein eines der Bücher von Thomas Szasz im Regal zu haben, kann zu Auseinandersetzungen führen. Das Erläutern seiner bekanntesten These, dass es streng genommen so etwas wie eine Geisteskrankheit gar nicht gibt, führt fast immer dazu. Und bereits die bloße Erwähnung seines Namens kann bei bestimmten Personen heftige Reaktionen auslösen. Als ich einmal einen mir bekannten Psychiater fragte, ob er mit Szasz' Arbeiten vertraut sei, rief er aus: »Oh, der Mann ist verrückt!« – womit er ohne es zu wollen Szasz' Standpunkt illustrierte, dass solche Bezeichnungen oft benutzt werden, um Leute zu stigmatisieren, die Anstoß erregen oder stören.

Ich glaube nicht, dass dieser Psychiater Szasz einweisen lassen wollte. Er brachte eher eine intellektuelle als eine klinische Beurteilung zum Ausdruck. Szasz' Kritik an der Psychiatrie legt jedoch nahe, dass solche Unterscheidungen letztlich willkürlich sind: Wenn er es wollte, könnte ein Psychiater jemanden für psychisch krank erklären, weil er mit dessen Weltanschauung nicht übereinstimmt – das ist im Kern damit gemeint, wenn man sagt, jemand »leide unter Wahnvorstellungen«. Wenn es diesem Psychiater auch noch gelingt, Gründe dafür zu liefern, dass der Patient sich oder anderen möglicherweise Schaden zufügen könnte (dass sie tatsächlich gar nicht in der Lage sind, eine solche Prognose abzugeben, geben übrigens viele Psychiater im privaten Rahmen zu), dann könnte er ihn außerdem einsperren und gegen seinen Willen »behandeln« lassen.

Szasz vertritt die Ansicht, dass es diese Möglichkeiten nicht geben sollte. Jahrzehntelang hat ihn das, was er als »leidenschaftliche Ablehnung von Zwang« (passion against coercion) bezeichnet, Zwangsunterbringungen in psychiatrische Kliniken anprangern lassen, und sein Festhalten an persönlicher Verantwortung machte ihn zum entschiedenen Gegner der insanity defense[1]. Wenn jemand eine Straftat begeht, so Szasz, sollte er bestraft und nicht »behandelt« werden. Solange er jedoch die Rechte von niemand anderem verletzt, sollte man ihn in Ruhe lassen, wie bizarr sein Verhalten auch erscheinen möge.

Solche Ansichten sind heute nicht gerade populär, sie waren aber noch weitaus ketzerischer, als Szasz in den späten Fünfzigern des letzten Jahrhunderts damit begann sie zu veröffentlichen. Szasz wurde 1920 in Budapest geboren, emigrierte 1938 in die USA und studierte an der Universität von Cincinnati, wo er zunächst ein Physikstudium mit einem Bachelor of Arts abschloss und 1944 zum Doktor der Medizin promovierte. Nach der Facharztausbildung im Bereich Psychiatrie machte er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker am Chicagoer Institut für Psychoanalyse, wo er anschließend fünf Jahre als Mitarbeiter blieb. 1956 wurde er Professor für Psychiatrie an der State University of New York in Syracuse, der er heute als Professor emeritus angehört. Kurz danach begann er mit der Publikation von Artikeln, die die Grundannahmen seines Berufsstandes in Frage stellten. Diese Beschäftigung mündete schließlich 1961 in seinem zum Klassiker gewordenen Werk »The Myth of Mental IllnessExterner Link« (dt.: »Geisteskrankheit. Ein moderner MythosExterner Link«).

Im Vorwort schrieb er: »Die ersten Ideen zu diesem Buch kamen mir vor etwa zehn Jahren, als mir der vage, willkürliche und generell nicht zufriedenstellende Charakter der Idee von einer Geisteskrankheit und der mit ihr verbundenen Begriffe Diagnose, Prognose und Behandlung zunehmend auffiel. Wie mir schien, hatte der Begriff Geisteskrankheit aufgrund der einst vorhandenen Identität von Medizin und Psychiatrie historisch betrachtet durchaus seine Berechtigung, war aber rational gesehen unsinnig.« Szasz' kühne Attacke auf einen Begriff, den die meisten Leute als eine Selbstverständlichkeit betrachteten (und dies heute immer noch tun), weckte mit Unterstützung durch Bürgerrechtler und andere Gesellschaftskritiker erhebliche Zweifel an den Rechtfertigungen für psychiatrische Zwangsmaßnahmen. Dieses aufkommende Unbehagen führte in den sechziger und siebziger Jahren zu gesetzlichen Reformen, die das Einsperren von Menschen, die als verrückt galten, erschwerten.

»Geisteskrankheit ist ein Mythos, dessen Funktion darin besteht, zu verhüllen und uns so die bittere Pille der moralischen Konflikte in menschlichen Beziehungen zu versüßen.« Dies schrieb Szasz in »The Myth of Mental Illness« (dt.: Mythos GeisteskrankheitExterner Link), einem Artikel, der ein Jahr vor der Veröffentlichung des gleichnamigen Buches in der Zeitschrift American Psychologist erschien. »Wenn ich behaupte, dass es so etwas wie eine Geisteskrankheit nicht gibt, dann bestreite ich damit nicht, dass Menschen Schwierigkeiten haben, mit ihrem Leben und miteinander zurechtzukommen.« Genauso wenig hat Szasz je geleugnet, dass sich organische Erkrankungen wie Alzheimer oder eine unbehandelte Syphilis auf das Denken und das Verhalten auswirken können. Er besteht jedoch auf der Beweisbarkeit eines zugrunde liegenden körperlichen Defekts und betont, dass Verhalten als solches niemals eine Krankheit ist. Auf seiner Website (www.szasz.comExterner Link) schreibt er: »Gedanken, Gefühle und Verhalten als Krankheiten zu klassifizieren ist ein logischer und semantischer Fehler, genauso wie die Klassifikation des Wals als Fisch.«

Dieser Fehler habe ernsthafte Konsequenzen: »Die Klassifikation von (Fehl)verhalten als Krankheit ebnet den Weg für die ideologische Rechtfertigung einer staatlich gelenkten sozialen Kontrolle.« In seinem 1990 erschienen Buch »The Untamed TongueExterner Link« schreibt er dazu: »Was heutzutage insbesondere im juristischen Kontext als Geisteskrankheit bezeichnet wird, ist keine Tatsache, sondern eine Strategie; kein Zustand, sondern eine Methode (policy). Kurz gesagt handelt es sich nicht um eine Krankheit, die der angebliche Patient hat, sondern um eine Entscheidung derjenigen, die ihn als geisteskrank bezeichnen, und zwar darüber, wie mit ihm zu verfahren sei, unabhängig davon, ob ihm das zusagt oder nicht.«

Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Psychiatrie führt zu dem, was Szasz den »therapeutischen Staat« nennt, ein System, in welchem unerwünschte Gefühle, Denk- und Handlungsweisen durch pseudomedizinische Interventionen unterdrückt (»geheilt«) werden. Somit werden der Gebrauch illegaler Drogen, Rauchen, übermäßiges Essen, Glücksspiel, Ladendiebstahl, sexuelle Promiskuität, Päderastie, Übermütigkeit, Schüchternheit, Angst, Traurigkeit, Rassismus, unkonventioneller Glaube und Suizid allesamt als Krankheit oder Symptome von Krankheiten betrachtet – als Dinge, die Menschen gegen ihren Willen zustoßen. Szasz ist überzeugt davon, dass diese Denkweise individuelle Verantwortlichkeit untergräbt und aufgezwungenem Paternalismus den Weg ebnet. Ein Paradebeispiel dafür ist die Drogenprohibition, ein Gebiet, das er mit seinen Arbeiten, insbesondere mit der 1974 erschienenen scharfsinnigen Streitschrift »Ceremonial Chemistry: The Ritual Persecution of Drugs, Addicts and PushersExterner Link« (dt.: »Das Ritual der DrogenExterner Link«), entscheidend beeinflusst hat.

Wenn Szasz in diesem Jahr seinen achtzigsten Geburtstag feiert, sind die missbräuchliche Verwendung des medizinischen Modells und der wörtliche Gebrauch der Krankheitsmetapher allgegenwärtig. Aber man hört auch skeptische Stimmen, häufig die von Szasz-Verehrern, zu Themen wie strafrechtliche Verantwortlichkeit, zum Wesen der Sucht oder zum Realitätsgehalt der neuesten psychiatrischen Modediagnose. Szasz selbst hört nicht auf, immer wieder auf die Gefahren hinzuweisen, die entstehen, wenn wir unsere Selbstbestimmung in die Hände von Ärzten legen, die im Auftrag des Staates tätig sind. Letztes Jahr publizierte er »Fatal Freedom: The Ethics and Politics of SuicideExterner Link«, worin er warnt: »… sich auf Ärzte zu verlassen, damit diese einen Suizid verhindern, ihn verordnen oder zu einem solchen verhelfen … ist eine Ausflucht mit fatalen Folgen für die Freiheit.« Als ich ihn im Februar in einem Telefongespräch interviewte arbeitete er gerade an einem Buch über die Entstehung des therapeutischen Staates. Danach, sagte er, würde er gern eine »Geschichte der psychiatrischen Untaten, von ihrem Beginn bis zur Gegenwart« schreiben. (Das Buch erschien 2007 unter dem Titel »Coercion as CureExterner Link«. d. Ü.)

Szasz schreibt regelmäßig Beiträge für das Magazin »Reason«. Seine Arbeiten wurden unter anderem auch in Zeitungen und Zeitschriften wie »The Lancet« oder »Playboy« veröffentlicht. Er hat annähernd 700 Artikel und zwei Dutzend Bücher verfasst, darunter »Law, Liberty and PsychiatryExterner Link« (1963) (dt.: »Recht, Freiheit und PsychiatrieExterner Link«), »The Ethics of Psychoanalysis« (1965), »The Manufacture of Madness« (1970) (dt.: »Die Fabrikaktion des WahnsinnsExterner Link«), »The Myth of PsychothrapyExterner Link« (1976) (dt.: »Der Mythos der PsychotherapieExterner Link«), »The Therapeutic StateExterner Link« (1984) und »Our Right to DrugsExterner Link« (1992).

Ob er an einem neuen Buch arbeite? »Was soll ich sonst machen?« Ob er Pläne für ein weiteres Buch danach habe? »Die habe ich immer.«

Reason: Sie haben gesagt, dass echte Hirnerkrankungen zum Arbeitsgebiet der Neurologen gehörten und nicht zu dem der Psychiater. Ich schließe daraus, dass das, was man gewöhnlich Geisteskrankheit nennt und das Sie als Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung bezeichnen, eine Aufgabe für den Psychotherapeuten ist. Haben Psychiater als Ärzte mit einer Spezialisierung auf psychologische Probleme überhaupt noch eine Legitimation?

Szasz: Das hängt vollständig davon ab, welche Formen von Übereinkünften die Gesellschaft und das ökonomische System zulassen. Es gibt keinen Grund, Ärzte daran zu hindern, sich mit Menschen zu unterhalten.

Reason: Ist in Ihren Augen eine medizinische Ausbildung für solch ein Tätigkeit von Vorteil?

Szasz: Ja, sie ist aber keine Notwendigkeit. Es gibt zwei Dinge, ohne die das Leben nur schwer zu bewältigen ist; das sind Medizin und Recht. Zu wissen, wie der Körper funktioniert, nützt jedem. Es kann einem als Therapeuten helfen, weil es alle möglichen persönlichen Beschwerden gibt, und die Leute, die zu einem kommen, genauso gut auch krank sein können. Wissen über Medizin ist in der gleichen Weise hilfreich wie rechtliche Kenntnisse, denn Menschen sind auch in alle möglichen rechtlichen Probleme verwickelt.

Reason: Wie würden Sie Ihren Therapieansatz beschreiben?

Szasz: Ich betrachte Psychoanalyse als eine vertraglich geregelte Unterhaltung über die Probleme einer Person und darüber, wie man sie löst. Ich habe immer die Vorstellung zu vermeiden versucht, der Therapeut wisse mehr über die andere Person als diese über sich selbst. Ich hielt und halte diese Vorstellung für schädlich und auch für höchst anmaßend. Wie könnte ich nach ein paar Stunden, ein paar Tagen oder auch ein paar Monaten mehr über eine Person wissen als diese über sich selbst? Sie kennt sich selbst doch wohl schon wesentlich länger! Das Ganze überhaupt »Therapie« zu nennen, empfinde ich als Behinderung.

Es gab also zwischen mir und der anderen Person eine Art Vereinbarung, ein Gespräch darüber zu führen, wie sie ihr Leben bewältigen könnte. Dazu gehört selbstverständlich auch die Wahl anderer Optionen des Umgangs mit seiner Frau, seinen Kindern und seinem Job. Die Grundannahme war, dass die einzige Person, die diese Person ändern konnte, die Person selbst war. Meine Rolle war die eines Katalysators. Man macht Vorschläge, untersucht Alternativen und hilft der Person damit, sich selbst zu ändern. Dass die Person vollständig für sich selbst verantwortlich bleibt, ist dabei eine Grundvoraussetzung.

Reason: Sie sind als Psychoanalytiker ausgebildet. Wie hat sich Ihre Einstellung zu Freuds Theorien über die Jahre hinweg verändert?

Szasz: Freud hatte eine sehr gute Idee, die sehr schnell missbraucht wurde. Bertrand Russell hat einmal gesagt, dass Christlichkeit eine wunderbare Idee sei – zu schade nur, dass man es nie mit ihr versucht hat. So sehe ich die Psychoanalyse. Freud hatte eine wunderbare Idee: ein absolut privates und vertrauliches Gespräch unter vier Augen mit einem anderen Menschen über dessen Leben zu führen. Es gibt keinen Zwang. Es basiert auf einem Vertrag zwischen den beiden Beteiligten. Der Patient bezahlt. Aber schon kurz nachdem Freud diese Idee entwickelt hatte, opferte er sie wieder, indem er die vereinbarte Vertraulichkeit missbrauchte, die Lehranalyse und die Kinderanalyse schuf usw. In kürzester Zeit wurde aus der Psychoanalyse eine Sache, bei der die Grundannahme galt, der Therapeut wisse mehr über den Patienten als dieser über sich selbst. Darin lag eine Art Manipulation und Instrumentalisierung.

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass etwas mit dem autoritären, hierarchischen Prinzip nicht stimmte. Gleichzeitig hat es mich sehr beeindruckt, dass dies eine radikale Abkehr von der einer »Psychiatrie« war, die ausschließlich auf einer erzwungenen Beziehung basierte. Traditionsgemäß gibt es keine freiwilligen Psychiatriepatienten. Das ist ein Widerspruch in sich. Wenn man verrückt ist, wird man in einer staatlichen Klinik eingesperrt. Freuds große Innovation lag darin, dass man nun im Rahmen der Medizin über seine Probleme sprechen konnte ohne für verrückt erklärt oder eingesperrt zu werden.

Reason: In den sechziger Jahren stimmten Leute wie R.D. Laing und Michel Foucault mit Ihnen darin überein, dass Psychiatrie eine Form der sozialen Kontrolle sei, eine Methode, unter dem Deckmantel der Therapie unerwünschtes Verhalten zu stigmatisieren und zu bestrafen. Laing und Foucault sahen sich beide als Linke, während Sie Vertreter des klassischen Liberalismus waren. Worin liegen Ihrer Meinung nach die grundlegenden Unterschiede zwischen Laings und Foucaults Einstellung zur Psychiatrie und Ihrer eigenen Sichtweise, und wie sind diese Differenzen politische-ideologisch begründet?

Szasz: Auch wenn wir bezüglich der Kritik an der traditionellen Psychiatrie übereinstimmten, haben sie dennoch nie deutlich gemacht, dass körperliche Erkrankungen wie Lungenentzündung, Krebs usw. real sind, während psychische Krankheiten nur im metaphorischen Sinn Krankheiten sind, so wie ein »kranker« Witz. Es sind Probleme, aber es sind keine medizinischen Probleme, da ihnen keine somatische, organische Ursache zu Grunde liegt und sie einer körperlichen, organischen Behandlung nicht zugänglich sind. Es handelt sich im Kern um Konflikte, die in einem selbst liegen und um Konflikte zwischen einem selbst und anderen. Das wäre der erste Unterschied.

Zweitens hat insbesondere Laing die rechtlichen Aspekte völlig außer Acht gelassen. Er hat nie wirklich zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Psychiatrie differenziert. Hier ist meine klassisch liberale Überzeugung insofern von entscheidender Bedeutung, als ich fest davon überzeugt bin, dass es keine Einmischung in freiwillige Beziehungen zwischen Psychiatern und Patienten geben sollte. Wenn der Patient ein Medikament möchte, bitte. Wenn der Patient eine Lobotomie möchte, okay. Das heißt jedoch nicht, dass ich das gut finde, genauso wenig wie wenn eine Patientin eine Abtreibung will, nur weil es unbequem ist, ein Baby zu haben. Ich halte auch das für keine gute Idee. Aber ich finde auch nicht, dass sich das Gesetz da einmischen sollte.

Was allerdings die Zwangspsychiatrie angeht, die halte ich unter keinen Umständen für zulässig. Weder Laing noch Foucault haben dies deutlich gemacht. Von ihnen ging eine Art pauschale Verurteilung der Psychiatrie aus mit dem Beigeschmack einer sozialistisch-linksgerichteten Anklage des Kapitalismus. [Ihrer Meinung nach] taugt die ganze Sache nichts. Natürlich taugt die ganze Sache in mancherlei Hinsicht nichts, insofern sie auf einer falschen Idee beruht, aber das trifft genauso auf Religion zu, wenn man selbst nicht religiös ist. Man würde sie dennoch nicht verbieten oder sich in sie einmischen wollen.

Reason: Wie es scheint, sind seit der Veröffentlichung von »The Myth of Mental Illness« immer mehr Lebensbereiche medizinalisiert worden. Aber gleichzeitig scheinen die Leute immer mehr Willens zu sein, die Autorität von Psychiatern und von Ärzten im Allgemeinen in Frage zu stellen. Alles in allem, was meinen Sie, haben Psychiater und Ärzte heute mehr oder weniger Macht als früher?“

Szasz: Ich glaube, sie haben sehr viel mehr Macht, aber diese Macht ist zunehmend verdeckter und subtiler geworden. Wenn man Psychiater als solche betrachtet, dann haben sie vielleicht etwas weniger Macht, aber die Macht hat sich verteilt auf die sogenannten »psychosozialen Fachkräfte«: Schulpsychologen, Trauerberater, Suchttherapeuten usw. Die begegnen einem überall. Vor sechzig Jahren, als ich noch meine medizinische Ausbildung machte, waren derartige Tätigkeiten ausschließlich Psychiatern vorbehalten. Die klassischen Psychiater mögen also weniger Macht haben. Sie haben mit Sicherheit nicht mehr die alten, feudalen Anwesen gleichenden, staatlichen Hospitäler, wo sie von Patienten ihre Autos waschen ließen. Das ist vorbei. Auf der anderen Seite gibt es eine Art tocquevillescher Unterdrückung – eine abgeschwächte Form des Totalitarismus.

Reason: In mancher Hinsicht scheinen die Leute bezüglich der Versuche von Psychiatern, Verhalten zu medizinalisieren, skeptischer gegenüber zu stehen als früher. Selbst Psychiater geben oft zu, dass das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen, DSM) in zunehmendem Maße willkürlich und unwissenschaftlich ist. Es scheint auch, dass die Verwendung des Begriffes »Störung« (disorder) – statt »Krankheit« (disease, illness) – eingeführt worden ist, um der Frage auszuweichen, ob diese Leiden eine biologische Grundlage haben. Mittlerweile sind Journalisten zunehmend hellhöriger bei Kontroversen darüber geworden, was eine echte Störung ausmacht, wie zum Beispiel im Fall bei der »Multiplen Persönlichkeitsstörung«, die ja mittlerweile in Verruf geraten ist. Ist diese Skepsis nur temporär?

Szasz: Ohne übertrieben pessimistisch wirken zu wollen, verstärkt meiner Meinung nach diese ganze Entwicklung unterschwellig den grundlegenden Irrtum der Psychiatrie wie auch ihre grundlegende Autorität. Die Leute sagen, natürlich sind Multiple Persönlichkeitsstörung und Sozialphobie Übertreibungen, aber Schizophrenie, Depression usw. sind richtige Erkrankungen und rechtfertigen infolgedessen Zwangseinweisungen, ambulante Zwangsbehandlung, die massenweise Verabreichung von psychiatrischen Drogen an Kinder und Menschen in Pflegeheimen usw.

Ich habe immer den Begriff »Psychose« abgelehnt: Warum haben Sie nicht das Recht zu sagen, Sie seien Jesus? Und warum ist die richtige Antwort darauf nicht »Herzlichen Glückwunsch!«?

Reason: Seit Sie in den sechziger Jahren die Zwangseinweisung kritisierten, haben sich durch rechtliche Reformen die Rahmenbedingungen für die Einsperrung von Menschen geändert. Inwieweit stimmten diese Änderungen mit dem, um was es Ihnen ursprünglich ging, überein?

Szasz: Sie waren völlig entgegengesetzt. Der ganze Deinstitutionalisierungsprozess war genauso erzwungen wie der Prozess der Institutionalisierung. Zuerst wurden Patienten gegen ihren Willen in Anstalten gebracht. Dann wurden sie dort lange Zeit festgehalten und dabei in der Regel der Gesellschaft entfremdet. Sie hatten keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ihre Familien wollten sie nicht haben. Sie hatten keinen Ort, wo sie hätten leben können. Anstatt in einem der Krankenhäuser, welches die meisten von ihnen wahrscheinlich als ein Zuhause betrachteten, bleiben zu dürfen, wurden sie gewaltsam auf die Straße gesetzt und in staatlichen Einrichtungen untergebracht, die aber nicht mehr Krankenhäuser hießen. Da hat also eine Täuschung riesigen Ausmaßes stattgefunden. Die Anzahl der Leute, die heute als psychisch kranke Patienten vom Staat unterhalten werden, ist wahrscheinlich nicht geringer als früher.

Reason: Wo sind sie jetzt?

Szasz: Sie leben in sogenannten Übergangswohnheimen, in Wohngruppen, Pflegeheimen, Gefängnissen oder auf der Straße und beziehen Sozialhilfe. Früher bekam man für Schizophrenie kein Geld, jetzt bekommt man ziemlich viel Geld dafür. Diese Leute werden jetzt eher wie Haustiere gehalten, anstatt im Zoo eingesperrt zu sein.

Reason: Die Deinstitutionalisierung psychisch Kranker ist kritisiert worden, weil durch sie hilflose, manchmal auch gefährliche Leute auf der Straße landen. Was hätten Sie anders gemacht?

Szasz: Es gibt zwei Dinge, die ich ganz anders gemacht hätte, und die haben wirklich etwas mit meiner leidenschaftlichen Ablehnung von Zwang zu tun, besonders von unnötigem Zwang, und besonders von Zwang außerhalb eines Rechtsystems mit einem ordentlichen Verfahren.

Zuerst hätte ich alle weiteren psychiatrischen Zwangsmaßnahmen verhindert. Das ist kaum vorstellbar, denn es bedeutet, die Hauptfunktion der Psychiatrie aufzuheben, die zu einem Teil darin besteht, der Gesellschaft, Familien, Ärzten usw. unerwünschte Personen abzunehmen und zum anderen Teil in der »Suizidprävention«. »Selbstgefährdung« – das ist für mich der Schlussstein im römischen Bogen. Solange er nicht herausgeschlagen ist, ist es unmöglich das Gefüge zu zerstören. Menschen sollten nicht durch Zwangsmaßnahmen vor sich selbst geschützt werden. Psychiater sollten dabei genauso wenig eine Rolle spielen wie Priester.

Reason: Und nach dem Ende der Zwangspsychiatrie hätten die Leute die Freiheit gehabt, die Anstalten zu verlassen, wären aber nicht gezwungen worden zu gehen?

Szasz: Sie hätten die Freiheit gehabt zu gehen, und sie hätten die Freiheit gehabt zu bleiben. Sie hätten einfach eine Unterkunft und Verpflegung haben können. Das wurde aber nie jemandem angeboten. Ich würde sie niemandem geben außer denen, die bereits Opfer des Systems geworden sind. Sie sollten jede Möglichkeit erhalten, aus den Anstalten herauszukommen, sofern sie es wollen.

Das bringt uns übrigens zu dem alten Vorkriegssystem zurück, als in einem einzigen staatlichen Krankenhaus immerhin 15000 Patienten untergebracht waren. Nichts war einfacher, als solchen Orten zu entkommen; sie waren nicht mit Stacheldraht eingezäunt. Im Grunde war die Flucht, das »Ausreißen«, die übliche Methode, um entlassen zu werden. Vom Krankenhaus lief ihnen niemand hinterher. Aber die Tatsache, dass die meisten Leute nicht wegliefen, ließ darauf schließen, dass sie nirgendwo anders hin konnten und dass dieser Platz tatsächlich doch nicht so schlecht für sie war, insbesondere bevor es »Behandlungen« gab.

Reason: Wenn eine Straftat von einer als schizophren diagnostizierten und obdachlosen Person begangen wird, sagen Kritiker der Deinstitutionalisierung, dass es heutzutage zu schwierig sei, jemanden in einer psychiatrischen Klinik unterbringen zu lassen. Sie sagen, die Kriterien für die Beurteilung der Selbst- oder Fremdgefährdung seien zu anspruchsvoll. Haben sie Recht?

Szasz: Nein, sie haben unrecht. Aber das bringt uns zu dem zurück, was ich auch noch anders gemacht hätte: Ich hätte nicht nur vom ersten Tag an alle weiteren Zwangseinweisungen unterbunden, ich hätte am gleichen Tag auch die insanity defense abgeschafft. Psychiater hätten vor Gericht einfach keine Zeugenaussage als Experte mehr machen dürfen, genauso wenig wie ein Priester vor Gericht Zeugnis über Himmel oder Hölle ablegen darf.

Ich hätte also beides abgeschafft [Zwangseinweisungen und die insanity defense]. Ich glaube, dass als Folge davon 99 Prozent der heutigen Straftäter im Gefängnis wären und bestraft würden, wahrscheinlich zu langen Haftstrafen. Denn in jedem dieser Fälle können wir sehen, dass die straffällig gewordene Person – z.B. dieser Kerl, der in New York eine Frau vor die U-Bahn stieß –, nicht nur eine lange Liste von Psychiatrieaufenthalten, sondern auch von Gewalttaten vorzuweisen hat.

Typischerweise beginnt das, was man schwere psychische Störung nennt, mit irgendeiner Form von Gewalt in der Familie. Ein Junge von 17, 18 oder 19 Jahren greift seine Mutter mit dem Küchenmesser an. So einer sollte auf der Stelle für fünf Jahre ins Gefängnis. Das ist ein potentiell tödlicher Angriff auf eine Person. Aber diese Dinge werden gewöhnlich via Diagnose unter den Teppich gekehrt. Und dann wundern sich die Leute fünf Jahre später, was passiert ist.

Reason: Was ist mit Menschen, die keine Gewalttaten begangen haben, sondern sich einfach sonderbar oder vielleicht auch bedrohlich verhalten? Letztes Jahr ging ich mit meiner Frau und meiner Tochter in Manhattan spazieren, da sahen wir einen Mann in Tarnhose die Straße herunter rennen, während er ein Betonrohr über seinem Kopf hoch und runter stemmte und dabei vor sich hin fluchte. Was kann man mit so einem überhaupt machen?

Szasz: Das ist eine politische Frage. Auf welche Weise darf man in einer relativ freien Gesellschaft verbal oder non-verbal kommunizieren? Wie viele Ohrringe darf man in der Nase, in den Ohren oder im Bauchnabel tragen? Ich meine, das ist eine Frage der sozialen Kontrolle. Das hat mit Medizin nichts zu tun, es hat auch mit Psychiatrie nichts zu tun außer als Instrument sozialer Kontrolle. Ich habe darauf keine andere Antwort als meine eigenen Vorlieben. Ich mag das genauso wenig wie Sie. Auf diese Art grenzen Menschen sich selbst aus. Ich meide Orte, wo Menschen sich so verhalten. Auf diese Weise bilden sich soziale Gruppen. In einer freien Gesellschaft wäre das so. Wenn eine Stadt solchem Verhalten genügend Raum ließe, dann würden Menschen vielleicht irgendwann beginnen sie zu meiden und es würde mit ihr wirtschaftlich den Bach runtergehen.

Reason: Als Alternative dürfte eine störende Person wegen Bedrohung anderer Personen oder wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen werden?

Szasz: Oder wegen ungebührlichen Benehmens. Irgendetwas in dieser Art. Das Gesetz ist eine disziplinierende Instanz. Das ist so wie mit falschem Parken. Viele Dinge, für die Leute diszipliniert werden, sind relativ geringfügige Vergehen.

Reason: Seit Sie zum ersten Mal mit Ihrer Forderung nach Abschaffung der insanity defense in der Öffentlichkeit auftraten, sind Anwälte zunehmen kreativer darin geworden, sich Entschuldigungen auszudenken, die ihre Mandanten der Verantwortung für ihr Handeln entheben. Nach der Art von Kritik und Spott durch Kommentatoren, Kabarettisten und Leuten auf der Straße zu urteilen, nimmt die Skepsis bezüglich solcher Entschuldigungen aber ebenfalls zu. Hören die Leute endlich auf Ihre Warnungen?

Szasz: Das kann ich nicht beurteilen, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Widerspruch nicht die Verbreitung dieser Praxis aufhält, wie die Fälle von John Hinckley und Ted Kaczynski zeigen. Die Leute waren einmal skeptisch, aber die insanity defense hat sich als so brauchbar und handlich erwiesen, dass ich keinen ernstzunehmenden Experten wüsste, der sie als allgemein übliches Verfahren und vom Grundsatz her anprangert. Sie sagen sagen vielleicht in diesem oder jenem speziellen Fall, dass es falsch sei, die insanity defense anzuwenden, aber im Allgemeinen halten sie sie für eine gute Sache.

Der Fall Kaczynski ist ein wunderbares Beispiel dafür. Kaczynski bat darum, nicht als geisteskrank bezeichnet zu werden, und dies wiederum wurde als Beweis seiner Verrücktheit interpretiert! Er weigerte sich, sein Problem zu erkennen. Jetzt bittet er um die Wiederaufnahme des Verfahrens, damit er hingerichtet werden kann. Aber so etwas verschwindet auf den letzten Seiten der Zeitungen. Und natürlich wird es als weiterer Beweis dafür interpretiert, dass er verrückt ist – er möchte getötet werden.

Reason: Der Psychiater E. Fuller Torrey schrieb, dass »Studien, bei denen bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie und die Positronen-Emissions-Tomographie eingesetzt wurden, bewiesen hätten, dass Schizophrenie und manisch-depressiven Erkrankungen Störungen der Gehirnfunktion sind, in exakt der gleichen Weise wie Parkinson und Multiple Sklerose.« Stimmt das? Wenn nicht, was zeigen diese Studien dann in Wahrheit?

Szasz: Die meisten gebildeten Leute wissen, wenn sie darüber nachdenken, wie eine richtige Krankheit diagnostiziert wird. Nehmen wir die Anämie. Wenn ein Patient hereinkommt und sagt, er sei müde, habe keine Energie und dabei sehr blass aussieht, dann denkt der Arzt wahrscheinlich, dass der Patient an einer Anämie leidet. Aber die Diagnose wird nicht eher gestellt, bis ein Laborbefund vorliegt, der zeigt, dass zu wenige rote Blutkörperchen da sind und die Hämoglobinkonzentration vermindert ist. Auf der anderen Seite kann ein Laborant allein auf der Basis einer ihm vorliegenden Blutprobe die Diagnose Anämie stellen, ohne dass er weiß, wessen Blut das ist. Sobald Schizophrenie auf diese Weise diagnostiziert werden kann, wird sie als Hirnerkrankung anerkannt werden, genauso wie die Neurosyphilis.

Reason: Mit anderen Worten, man müsste also nach einem Blick auf den Hirn-Scan sagen können: »Das ist ein Schizophrener.«

Szasz: Oder das ist kein Schizophrener … Meine Skepsis ist hier unendlich groß, weil ich selbst miterlebt habe, wie ein Mann für die Entdeckung, dass übermäßig aktive neuronale Verschaltungen im Frontallappen Schizophrenie verursachen, den Nobelpreis erhielt. Die Behandlung dafür war Lobotomie. Oder denken Sie an die Elektroschocktherapie: die Begründung dafür war, dass Epileptiker keine Schizophrenie bekommen könnten, was kompletter Blödsinn war. Es gibt eine lange Reihe derartiger Behauptungen.

Außerdem entfällt mit der Auffassung von Schizophrenie als Hirnerkrankung die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung. Die von Torrey erwähnten Krankheiten Parkinson und Multiple Sklerose können unter gar keinen Umständen legal ohne die Zustimmung des Patienten behandelt werden. Das ist wirklich nur Propaganda für Zwang. Es hält nicht der geringsten Überprüfung stand. Aber wie Sie sehen, müssen solche Leute nicht Recht haben – sie haben Macht.

Reason: Wäre es möglich, dass einige der Personen, bei denen heute Schizophrenie festgestellt worden ist, doch eine Form von neurologischem Defekt aufweisen?

Szasz: Selbstverständlich.

Reason: Würde sich ihre Einstellung zu psychischen Erkrankungen ändern, wenn das bewiesen werden könnte?

Szasz: Nein, denn dann hätten diese Personen einfach eine Krankheit, mit der sie leben müssten, so wie Stephen Hawking mit Amytropher Lateralsklerose leben muss. Anders gesagt: Durch eine Krankheit wird nicht alles festgelegt, was man tut.

Reason: Aber Menschen mit bestimmten Hirnerkrankungen wie z. B. Alzheimer können in ein Stadium gelangen, in dem sie nicht mehr länger in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Sie können dann durch gerichtliche Anordnung entmündigt werden. Sollte das gleiche Verfahren bei Leuten möglich sein, die heute als schizophren gelten, wenn sich herausstellt, dass sie doch eine Hirnerkrankung haben?

Szasz: Im Prinzip sollte das möglich sein. Ob jemand seine Angelegenheiten selbst regeln kann oder nicht, sollte allerdings mit gesundem Menschenverstand und auf Grund von Erfahrungen beurteilt werden, nicht esoterisch-psychiatrisch. Außerdem sollte das alte römische Prinzip des cui bono (wem nützt es) immer im Auge behalten werden. Der Vorwurf der Geschäftsunfähigkeit (incompetence) wurde früher von ihren habgierigen Kindern gegenüber ihren reichen und betagten Eltern erhoben, besonders dann, wenn der Vater eine jüngere Frau heiraten wollte. Dieser Vorwurf wird auch erhoben, wenn jemand gestorben ist, um damit das Testament der Person anzufechten. Die Frage der Geschäftsfähigkeit ist also eng mit den Motiven der Person verknüpft, die sie in Frage stellt.

Reason: Vielleicht haben Sie die TV-Werbung pharmazeutischer Unternehmen gesehen, in denen Leute, die unter einer »Sozialphobie« oder einer »generalisierten Angststörung« leiden, gedrängt werden, ihren Arzt um Pillen einer bestimmten Marke zu bitten. Diese Werbespots verstärken die Vorstellung, dass Angst und andere psychische Probleme medizinische Angelegenheiten seien und machen die Rolle des Arztes als desjenigen, der den Zugang zu Medikamenten und anderen Substanzen kontrolliert, deutlich. Aber man kann sie auch als Bestärkung und Ermutigung des Einzelnen verstehen, mit Ärzten selbstbestimmt umzugehen. Sehen Sie in einer derartigen Botschaft eine positive oder negative Entwicklung?

Szasz: Dieses Phänomen illustriert das, was ich als die schleichende Entwicklung des therapeutischen Staates bezeichne. Das ist ein heimtückischer Prozess, insbesondere wenn man sich dabei die Zusammenarbeit zwischen Staat und Medien ansieht. Diese Werbespots sind im Fernsehen erlaubt, aber Reklame für Scotch, ein legales Getränk, ist nicht erlaubt. Das untergräbt unterschwellig das Rechtsstaatsprinzip: Wenn etwas legal ist, ist es immer legal; wenn etwas illegal ist, ist es immer illegal. Ein verschreibungspflichtiges Medikament ist illegal. Apotheker dürfen es Ihnen nur verkaufen, wenn Sie ein Rezept dafür haben. Das sind illegale Drogen, aber niemand nennt sie so. Ich halte das für schädlich und sehe darin ein Beispiel für das, wovon F.A. Hayek und Ludwig von Mises gesprochen haben: dass das Gegenteil von Freiheit nicht brutale Tyrannei ist, sondern Willkür.

Reason: Angenommen, jemand fühlt sich niedergeschlagen und stellt fest, dass es ihm besser geht, wenn er Prozac nimmt. Oder jemand hat Angst und stellt fest, dass er mit einer Xanax ruhiger wird. Er kann diese Tabletten vom Arzt bekommen. Macht er etwas falsch, wenn er diese Medikamente nimmt?

Szasz: Ich glaube nicht, dass er damit etwas falsch macht, abgesehen davon, dass er meiner Meinung nach die Möglichkeit haben sollte, diese Medikamente auf dem freien Markt zu kaufen, um sie mit Opium, Marihuana und anderen Drogen vergleichen zu können. Es gibt im Augenblick keinen Wettbewerb zwischen verschreibungspflichtigen Medikamenten und den traditionellen Drogen, die die Leute genommen haben, wenn sie sich schlecht fühlten. Schließlich haben sich Menschen seit undenklichen Zeiten selbst behandelt. Ich vermute, dass Opium in geringen Dosen über einen längeren Zeitraum sicherer ist als diese komplizierten organischen Verbindungen.

Reason: In den letzten Jahren ist dieses Land angeblich von einer ADHS-Epidemie (»Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung«) heimgesucht worden. Was sind die Gründe für diese Epidemie?

Szasz: Zunächst würde ich sagen, dass diese Epidemie nicht existiert. Niemand erklärt, woher diese Krankheit kommt und warum es sie vor 50 Jahren nicht gab. Niemand ist in der Lage, sie mit objektiven Testverfahren zu diagnostizieren. Die Diagnosen kommen von sich beklagenden Lehrern oder Eltern. Eigentlich geht es ihnen aber um die Tatsache, dass sie Kinder – insbesondere Jungs – nicht mögen, die sich in der Schule schlecht benehmen. Die Diagnose hilft, die Eltern und das Schulsystem zu beruhigen. Es vermittelt ihnen das Gefühl, dass sie etwas gegen das Problem unternehmen, dass sie auf eine vernünftige und wissenschaftliche Weise damit umgehen. Es ist eine Art pharmakologischer Magie.

Reason: Was denken Sie über die Konsequenzen, wenn all diesen Kindern Ritalin verordnet wird?

Szasz: Die medizinischen Folgen für die nächsten 20 oder 30 Jahren sind nicht alle absehbar. In sozialer Hinsicht entsteht in der Bevölkerung der Eindruck, dass Verhaltensstörungen medizinische Probleme seien, die man mit Medikamenten in den Griff bekommen kann und sollte. Das Kind wird auf ernsthafte Weise gebrandmarkt, möglicherweise auch die Familie. Probleme bei der Erziehung von Kindern werden medizinalisiert. Ritalin kann biologische Probleme bei der Person verursachen, die es einnimmt. Ich weiß nicht, ob dem Durchschnittsbürger klar ist, dass ein 30jähriger Mann für den Besitz einer Handvoll Ritalin ein paar Jahre ins Gefängnis kommt. In diesem Fall wird es dann »Speed« genannt. Und so etwas geben sie Schuldkindern als Medikament, ohne dass es einen Laborbefund oder andere medizinische Beweise dafür gibt, dass sie krank sind.

Reason: Vor kurzem haben Tipper Gore und andere Personen gesagt, dass die Krankenversicherungen dazu gezwungen werden sollten, die Behandlung psychosozialer Probleme zu den gleichen Bedingungen zu versichern wie die Behandlung körperlicher Erkrankungen. Welche Konsequenzen wird eine derartige Gleichstellung Ihrer Meinung nach haben?

Szasz: Wir sprechen hier über eine Situation, in der die Regierung verfügt, dass eine angeblich private Versicherung die Kosten für eine Krankheit trägt, die nicht existiert. Darüber gibt es so viel zu sagen, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Diejenigen, die dafür eintreten – das sind hauptsächlich Politiker und Psychiater – wollen die Gleichstellung der psychischen Erkrankungen, aber nicht die Gleichstellung des psychisch kranken Patienten, denn ein normaler Patient darf die Behandlung ablehnen.

Sie meinen nicht Therapie, sondern freie Bahn für Zwangsbehandlung und für Säcke voller Geld für Psychiatrie und Psychopharmaka. Und noch einmal: cui bono? Wer hat davon einen Vorteil? Es kam schließlich ans Tageslicht, dass der Pharmakonzern Eli Lilly ein bedeutender Sponsor der National Alliance for the Mentally Ill[2] ist, und die haben Millionen von Dollar für die Verbreitung ihrer Ansichten. Die Kritiker haben kein Geld, um ihre Ansichten zu verbreiten. Das ist eine völlig einseitige und staatlich geförderte Bewegung.

Reason: Alan Lesher, der Direktor des National Institute on Drug Abuse, sagt »Drogenabhängigkeit ist eine Hirnerkrankung«. Gibt es eine wissenschaftliche Basis für diese Behauptung?

Szasz: So weit ich weiß, gibt es dafür nicht den geringsten Beweis. Wenn Leute Drogen nehmen und »süchtig« (hooked) werden, dann ist das nur ein anderer Ausdruck dafür, dass sie sich daran gewöhnt haben und dass es deshalb schwieriger ist, auf die Drogen zu verzichten, als wenn man diese Angewohnheit nicht hätte. Aber das ist nichts anderes als Englisch oder Ungarisch zu sprechen. Gewohnheiten lassen sich immer nur schwer ändern. Und selbstverständlich kann sich der Körper chemisch an die Droge gewöhnen, so dass beim Absetzen der Droge Entzugserscheinungen auftreten. Selbstverständlich kann eine Droge krank machen, aber das kann ein therapeutisches Medikament auch. Es kommt auf die Dosierung an, auf das, was man nimmt, und wofür man es nimmt.

Reason: Sie haben den Vorschlag kritisiert, im Bereich der Drogenpolitik von einem strafrechtlichen zu einem »medizinischen« oder »Volksgesundheits«-Modell (»public health« model) zu wechseln, weil dadurch, wie Sie sagen, der therapeutische Staat gefestigt werde. Aber wenn ein Drogendelinquent, der sonst ins Gefängnis gekommen wäre, sich stattdessen einer »Behandlung« unterziehen kann, wie es jetzt in Arizona der Fall ist, ist das dann für ihn nicht besser, auch wenn es sich dabei nur um eine Pseudotherapie handelt.

Szasz: Vielleicht ist das für ihn in dem gleichen Sinn besser, wie es für einen Juden im Spanien des fünfzehnten Jahrhunderts besser war, zum Christentum zu konvertieren als sich foltern zu lassen. Ich lehne aber dieses Dilemma ab. Eine dieser so genannten Behandlungsmethoden ist vielleicht weniger strafend für die betroffene Person. Aber der Nebeneffekt ist, dass dadurch die Legitimität dieser Art medizinischer Autokratie bestärkt wird.

Reason: Zu einer anderen Reform der Befürworter des "Volksgesundheits"-Modells gehören die »Spritzentauschprogramme«. Was halten Sie davon?

Szasz: Ich bin völlig gegen diese Art von schrittweisen Reformen. Ich komme immer wieder auf den Vergleich mit der Sklaverei zurück. Man kann die Plantagen nicht beschönigen. Entweder man hat Sklaven als Rechtsverhältnis, oder man hat sie nicht. Entweder man hat Zugang zu sauberen Spritzen, so wie den zu Waffen, oder man hat ihn nicht.

Reason: Eine einfache Lösung des Problems wäre es, die Nadeln ohne Rezept zu verkaufen und damit aufzuhören, Leute für deren Besitz zu bestrafen. Das ist keine wirklich grundlegende Reform, was die Drogenpolitik betrifft, aber ist das die Art von Reform, die Sie unterstützen könnten?

Szasz: In meinen Augen wäre das doch eine grundlegende Reform, denn dadurch würde die Botschaft vermittelt werden, dass es dieses Problem nur deshalb gibt, weil die Regierung es erst zu einem gemacht hat. Die Amerikaner begreifen nicht, dass ein großer Teil der AIDS-Fälle in Amerika von der Regierung zu verantworten ist, weil sie den Spritzenbesitz verboten hat. Man spricht von iatrogenen (durch ärztliche Maßnahmen verursachten) Krankheiten, aber man spricht nie von »staatlich verursachten« Krankheiten. Dafür gibt es kein lateinisches Wort.

Reason: Eine andere sogenannte »Reform zur Schadensreduzierung« besteht darin, den Benutzern von Opiaten den Zugang zu Methadon zu erleichtern oder Heroin auf Rezept zu ermöglichen. Halten Sie diese Vorschläge für sinnvoll?

Szasz: Sie sind sogar außerordentlich sinnvoll, und zwar für das Establishment, das diese Probleme verursacht hat und nun mit solchen Reformen seine Macht weiter ausbaut. Ich bin ein erbitterter Gegner dieser ganzen autokratischen Medizinalisierung. Das alles ist eine Verherrlichung des strafenden Staates und des strafenden Arztes, und gleichzeitig eine Herabwürdigung des sich frei entscheidenden Bürgers. So einfach ist das.

Reason: Sie vertreten eine ähnliche Ansicht hinsichtlich der Verwendung von Marihuana als Medikament, denn dies festige den therapeutische Staat, weil der Arzt derjenige ist, der bestimmt, ob man es bekommt oder nicht. Für einen Menschen, der krank ist und feststellt, dass Marihuana ihn von Schmerzen, Übelkeit oder Muskelkrämpfen befreit, hat eine Bestimmung wie die »California Proposition 215« die Folge, dass es weniger wahrscheinlich ist, dass er festgenommen und strafrechtlich verfolgt wird. Ist das keine Verbesserung?

Szasz: Man kann das mit dem Wunsch vergleichen, die Sowjetunion zu verlassen. Sie hätten sich an Stalin wenden und sagen können: »Mein Vater lebt in Amerika und ist achtzig Jahre alt. Könnten Sie mich nicht rauslassen?« Und dann hätte Stalin vielleicht gesagt: »Okay, ich lasse Sie raus, weil das wegen ihres Vaters gut für Sie ist.« Der Patient erhält eine spezielle Ausnahme von einer allgemeinen Regel. Ich halte das für völlig inakzeptabel.

Reason: Die allgemeine Regel oder die Ausnahme?

Szasz: Ich finde die allgemeine Regel inakzeptabel, und durch die Ausnahme wird nur einer bestimmten Person ein besonderer Gefallen getan.

Reason: Aber die Leute, die die Ausnahmeregelung nutzen können, geht es damit besser. Ist die für alle gleiche Anwendung eines schlechten Gesetzes besser als Ausnahmen davon zu machen?

Szasz: Das ist eines dieser klassischen Probleme. Wenn ein schlechtes Gesetz lange genug in Kraft bleibt, wird es vielleicht irgendwann aufgehoben, wohingegen Ausnahmen seine Lebensdauer verlängern. Ich habe nichts dagegen, dass man sich im Sinne einer humanitären Geste einer bestimmten Gruppe von Menschen gegenüber entgegenkommend verhält, natürlich nicht. Wenn jemand, der sich einer Krebstherapie unterzieht, unter Übelkeit leidet und Marihuana ihm hilft, ist es gut für ihn, es zu bekommen. Wie könnte ich dagegen sein? Aber das ist dasselbe, als würde man Juden mit Hilfe eines Gestapo-Mannes aus Nazi-Deutschland herausschmuggeln. Wäre es nicht besser, sie erst gar nicht zu verfolgen?

Reason: Die Frage, ob die Leute Marihuana zur Behandlung verschiedener Symptome einsetzen dürfen, nimmt in der Debatte über die Drogenpolitik wenig Raum ein. Trotzdem ist die Bewegung für den medizinischen Gebrauch von Marihuana auf starken Widerstand seitens der US-Bundesregierung gestoßen. Warum regen sich Ihrer Meinung nach Leute wie der Drogenzar Barry McCaffrey so über Versuche auf, den medizinischen Gebrauch von Marihuana zu legalisieren? Deutet das vielleicht darauf hin, dass die Aktivisten für medizinisches Marihuana an etwas dran sind, dass sie eine effektive Methode gefunden haben, das Drogenverbot zu umgehen?

Szasz: Der Grund, warum sich die Anti-Drogen-Krieger so aufregen, ist wahrscheinlich der, dass sie denken, es wird dadurch eine Art Dominoeffekt ausgelöst. Sie denken, sie müssten den Feind an Ort und Stelle bekämpfen, damit er sich nicht ausbreitet. Ich persönlich glaube, dass sie sich irren. Die Anti-Drogen-Krieger sind das Opfer ihrer eigenen Ideologie. Sie glauben tatsächlich ihrer eigenen Propaganda. Ich gehe nicht davon aus, dass medizinisches Marihuana sie sonderlich schwächen würde, genauso wenig wie es sie schwächt, dass die Leute Zigaretten rauchen dürfen, um sich zu beruhigen. Ich glaube, dass durch derartige Ausnahmen das Drogenverbot gestärkt wird. Die Begründung würde lauten: »Sehen Sie, die relativ Harmlosen lassen wir in Frieden, aber gegen die Drogenbosse müssen wir wirklich hart vorgehen, wenn wir sie finden.«

Reason: Die Befürworter des ärztlich assistierten Suizids (physician-assisted suicide) behaupten, dass der legale Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten die Autonomie unheilbar kranker Patienten stärken würde. Sie bestreiten das.

Szasz: Das ist das gleiche Problem wie bei medizinischem Marihuana: Alles, was die Leute haben wollen, wird zu einer Sache gemacht, die sie nur abhängig von einem Arzt bekommen können.

Reason: In »Fatal FreedomExterner Link« schreiben Sie, dass die Debatte über ärztlich assistierten Suizid die Rolle von Drogenprohibition und psychiatrischem Zwang ignoriert. Warum sind diese Faktoren wichtig?

Szasz: Sie sind grundlegend. Erstens, wenn es keine Drogengesetze gäbe, würde man auch keine Ärzte benötigen, um suizidalen Menschen Substanzen zu geben, mit denen sie Selbstmord begehen können. Schließlich besorgen Ärzte ihren Patienten ja auch keine Waffen oder Stricke. Zweitens scheint man sich nicht der Tatsache bewusst zu sein, dass Ärzten – Psychiatern – damit die Aufgabe zufällt beides zu tun: Suizid zu verhindern und zum Suizid zu verhelfen. Für mich sind das die Symptome eines »galoppierenden« therapeutischen Staates, in dem wir in zunehmendem Maße existenzielle Entscheidungen und persönliche Verantwortung an Ärzte und damit den Staat delegieren. Denn in der Debatte ist nicht die Rede von Ärzten als Heiler, sondern von Ärzten als Vertretern des Staates.

Reason: Sie sagen, dass der Begriff »ärztlich assistierter Suizid«irreführend sei. Wie ist das zu verstehen?

Szasz: »Ärztlich assistierter Suizid« kann zwei Dinge bedeuten: Der Arzt gibt dem Patient ein Medikament, sagen wir ein Barbiturat. Der Patient nimmt es und stirbt. Das ist einfach Selbstmord; ein Mensch tötet sich selbst. Wenn Sie in einem Laden einen Strick kaufen, spricht niemand von merchant-assisted suicide (Suizid unter Mitwirkung des Händlers). Andererseits kann es vorkommen, dass der Arzt einem Mensch Sterbehilfe leistet, also faktisch seinen Tod beschleunigt oder ihn tötet. Auf diese Weise sind früher viele alte Leute gestorben. Viele sterben auch heute noch so. Sie haben noch ein paar Tage oder Wochen zu leben, ihr Herz beginnt zu versagen und sie bekommen schwer Luft. Der Arzt gibt ihnen ein bisschen mehr Morphium und sie hören auf zu atmen. So ist Sigmund Freud gestorben. Aber das ist kein Suizid. Wie ich in meinem Buch hervorhebe, ist es von großer Bedeutung, dass die Gesetzgebung in Oregon zu physician-assisted suicide ausdrücklich darauf hinweist, dass ein Sterben auf solche Weise kein Suizid ist.

Reason: Wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken, worin sehen Sie Ihre wichtigsten Beiträge?

Szasz: Das sind nur zwei einfache Aussagen: Es gibt keine Geisteskrankheit. Und: Wenn Sie in einer psychiatrischen Klinik eingesperrt sind, sind Sie im Gefängnis. Sie werden nicht behandelt oder geheilt.

Was den größten Einfluss betrifft, so steht außer Frage, dass der »Mythos der Geisteskrankheit« und die Idee vom therapeutischen Staat Begriffe und Konzepte sind, die von vielen übernommen wurden, dabei aber oft auf eine ganz andere Weise benutzt werden, als ich sie benutze. Es gibt einen dritten Begriff, der sich nicht ganz so gut durchsetzen konnte, auch wenn er in einigen englischsprachigen Veröffentlichungen auftaucht: Pharmakratie (pharmacracy). Ich habe den Ausdruck in »Das Ritual der Drogen« verwendet. Mit Pharmakratie meine ich die Ersetzung rechtlicher und religiöser Kontrolle durch medizinische Kontrolle. Wir pharmakratisieren alles, auch den Umgang mit ungezogenen Kindern. ADHS ist ein perfektes Beispiel für die pharmakratische Kontrolle eines sozialen Problems: Wie erzieht man Kinder?

Reason: Sie scheinen generell pessimistisch zu sein. Sehen Sie irgendwelche ermutigenden Entwicklungen?

Szasz: Ich möchte das korrigieren. Intellektuell bin ich sehr pessimistisch, aber von der Mentalität her bin ich ein optimistischer Mensch. Ich bin pessimistisch, weil ich die Tendenz einer fortschreitenden Vermeidung persönlicher Verantwortung sehe.

Reason: Haben Sie denn ermutigende Entwicklungen gesehen, seit Sie zum ersten Mal über diese Probleme gesprochen haben?

Szasz: Ja. Die ermutigende Entwicklung ist eigentlich der Aufstand der Sklaven, der zunehmende Protest ehemaliger Psychiatriepatienten, von denen sich viele als Opfer bezeichnen. In allen möglichen Gruppen haben sie jetzt ein Mitspracherecht, welches sie früher nicht hatten. Wir sollten den Sklaven zuhören. Psychiatrie ist immer aus der Sicht der Psychiater beschrieben worden; jetzt kommen die Unterdrückten, die Opfer, die Patienten zu Wort. Ich glaube, dass das eine sehr positive Entwicklung ist.

Allgemeiner ausgedrückt halte ich das politische System Amerikas für unendlich flexibel und Hoffnung versprechend. Und natürlich ist da das Internet, ein riesiges Angebot von Informationen, durch das die Leute Zugang zu dem bekommen, was sie, wenn es nach dem Establishment ginge, nicht wissen sollten, nicht nur im Bereich der Politik sondern insbesondere auch auf dem Gebiet der Medizin. Erst vor kurzem musste ich mit Überraschung feststellen, dass in einer Bibliothek in Indiana meine Website wegen einer Filtersoftware nicht aufgerufen werden konnte. Warum sie blockiert war, das weiß Gott allein. Aber es hat mich sehr beeindruckt, dass sich jemand darüber beschwerte.

Übersetzung: Susanne Stegemann/Jan Groth

Das Original dieses Interviews mit dem Titel »Curing the Therapeutic State. Thomas Szasz on the medicalization of American life« erschien in Reason, Juli 2000Externer Link. Wir danken Reason für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.


[1]

insanity plea und insanity defense sind angelsächsische Rechtsbegriffe, denen im deutschen Recht die Regelungen in den StGB-Paragraphen 20 (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) bzw. 21 (verminderte Schuldfähigkeit) noch am nächsten kommen. Im Kern geht es bei insanity defense stets darum, dem Täter die Verantwortung für seine Tat abzusprechen und sie einer angeblich ursächlich verantwortlichen Geisteskrankheit oder psychischen Störung zuzuschreiben. Ein Freispruch wegen Schuldunfähigkeit (umgangssprachlich: Unzurechnungsfähigkeit) hat zumeist eine Einsperrung auf unbestimmte Zeit in der forensischen Psychiatrie zur Folge. d.Ü.; s.a. Der Kampf der Psychiatrie gegen strafrechtliche VerantwortlichkeitExterner Link

[2]

Die National Alliance for the Mentally Ill (Nationales Bündnis für die psychisch Kranken) ist eine einflussreiche Lobby-Organisation mit engen finanziellen und personellen Verbindungen zur Pharmaindustrie, die sich selbst als »Bürgerinitiative von Menschen mit Hirnerkrankungen und ihrer Familienangehörigen« bezeichnet. (siehe z. B. http://www.motherjones.com/politics/1999/11/prozacorgExterner Link); d. Ü.


Letzte Aktualisierung am 29.05.2018
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