Wir Amerikaner betrachten Rede- und Religionsfreiheit als grundlegende Rechte. Bis 1914 galt uns auch die Freiheit bei der Wahl unserer Nahrungsmittel und unserer Drogen als Grundrecht. Heute trifft das offensichtlich nicht mehr zu. Was waren die Ursachen für diese verhängnisvolle moralische und politische Transformation, die schließlich zur Ablehung des Rechts auf selbstbestimmte Ernährung und selbstbestimmten Drogenkonsum durch eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner führte? Wie konnte es dazu kommen, angesichts der nicht zu übersehenden Parallelen zwischen einerseits der Freiheit, »Dinge in seinen Geist zu tun«, und ihrer staatlichen Einschränkung durch Pressezensur, und andererseites der Freiheit, »Dinge in seinen Körper zu tun«, und ihrer Einschränkung durch staatliche Drogenkontrollmaßnahmen?
Die Antwort auf diese Fragen liegt hauptsächlich darin, dass unsere Gesellschaft ebenso therapeutisch ist, wie die mittelalterliche spanische Gesellschaft theokratisch war. So, wie die Männer und Frauen in einer theokratischen Gesellschaft nicht an die Trennung von Staat und Kirche glaubten, sondern im Gegenteil tief und fest an deren Einheit, so glauben wir als Mitglieder einer therapeutischen Gesellschaft nicht an eine Trennung von Staat und Medizin, sondern tief und fest an deren Einheit. Die Zensur von Drogen folgt aus der zuletzt genannten Ideologie so unausweichlich, wie die Zensur von Büchern aus der zuerst genannten folgte. Das erklärt, warum Liberale und Konservative – und Menschen, die sich politisch dazwischen verorten – unisono Drogenkontrollmaßnahmen befürworten. Es gibt heute in der Tat keine politische oder religiöse Überzeugung, die unter ihren Anhängern nicht auch Befürworter von Drogenkontrollmaßnahmen hat. Libertäre bilden hier die einzige Ausnahme.
Politisch betrachtet stellen Drogen, Bücher und religiöse Praktiken für das Volk und seine Regierung alle das selbe Problem dar. Der Staat als Repräsentant einer bestimmten Klasse oder herrschenden Ethik kann bestimmte Drogen, Bücher und religiöse Praktiken akzeptieren, andere dagegen als gefährlich, verdorben, verrückt oder teuflisch ablehnen. Im Verlaufe der Geschichte war dieses Arrangement charakteristisch für die meisten Gesellschaften. Alternativ kann der Staat als Repräsentant einer Verfassung, die der Idee des Vorrangs von individueller Entscheidungsfreiheit vor kollektiver Behaglichkeit eine Form verleiht, den freien Verkehr von Drogen, Büchern und religiösen Praktiken sicherstellen. Dieses Arrangement war traditionell charakteristisch für die Vereinigten Staaten, deren Verfassung ausdrücklich Religions- und Pressefreiheit garantiert. Und es kann mit einiger Berechtigung behauptet werden, dass sie implizit auch das Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich der Frage garantiert, was wir in unsere Körper aufnehmen.
Das Argument, dass Menschen eines staatlichen Schutzes vor gefährlichen Drogen, nicht aber vor gefährlichen Ideen bedürften, ist nicht überzeugend. Niemand muss eine Droge einnehmen, die er nicht will, genauso, wie niemand ein Buch lesen muss, das er nicht mag. Wenn der Staat die Kontrolle über solche Angelegenheiten übernimmt, dann nur, um sich seine Bürger untertan zu machen, indem er sie wie Kinder vor Versuchungen schützt und wie eine versklavte Bevölkerung daran hindert, ihr Leben selbst zu bestimmen.
Ich glaube, dass wir die Freiheit zur Selbstmedikation als Grundrecht betrachten sollten, so wie wir auch Rede- und Religionsfreiheit als Grundrechte betrachten. Und ich glaube, dass wir, statt verlogen illegale Drogen zu verdammen oder aber ihren Gebrauch gedankenlos zu propagieren, uns in Anlehnung an Voltaires berühmten Ausspruch an die folgende Maxime halten sollten: »Ich missbillige, was Du nimmst, werde aber bis auf den Tod Dein Recht verteidigen, es zu nehmen!«
Früher oder später werden wir uns dem grundlegenden moralischen Dilemma, das dem sogenannten Drogenproblem zugrundeliegt, stellen müssen: Hat eine Person das Recht, eine Droge – und zwar jede Droge – zu nehmen, und dies nicht, weil sie sie als Mittel zur Heilung einer Krankheit braucht, sondern einfach deswegen, weil es ihrem Wunsch entspricht?
Wir Amerikaner haben das Recht, ein Buch – und zwar jedes Buch – zu lesen, und dies nicht etwa, weil wir uninformiert sind und etwas lernen wollen, auch nicht, weil eine staatliche geförderte Autorität in Sachen Bildung behauptet, dies wäre unserem Wohl förderlich, sondern einfach, weil wir dieses Buch lesen wollen, und weil die Regierung – als unser Diener und nicht unser Herr – nicht das Recht hat, sich in unsere privaten Leseangelegenheiten einzumischen. Ich glaube, dass wir auch das Recht haben, eine Substanz – und zwar jede Substanz – zu essen, zu trinken, oder uns zu injizieren, nicht, weil wir krank sind und uns heilen wollen, oder weil eine staatlich geförderte Autorität in Sachen Medizin behauptet, dies wäre unserem Wohl förderlich, sondern einfach, weil wir diese Substanz einnehmen wollen und weil die Regierung – als unser Diener und nicht unser Herr – sich nicht in unsere privaten Ernährungs- und Drogenangelegenheiten einzumischen hat.
Der Schutz der Religionsfreiheit im ersten Zusatzartikel der Verfassung (First Amendment) ist ein Beispiel für diese Haltung: Der amerikanische Bürger soll von seiner Regierung nicht erwarten, dass sie für solche religiösen Glaubensrichtungen und Institutionen sorgt, die gut für ihn sind und ihn gleichzeitig vor solchen schützt, die schlecht für ihn sind. Unser System von Drogenkontrollmaßnahmen folgt dem gegenteiligen Prinzip: Der amerikanische Bürger soll von seiner Regierung erwarten, dass sie für solche Drogen und Institutionen der Drogenabgabe sorgt, die gut für ihn sind und ihn gleichzeitig vor solchen schützt, die schlecht für ihn sind. Die Ergebnisse sprechen für sich.
Bedauerlicherweise haben wir Amerikaner uns kollektiv dafür entschieden, unsere Freiheit, selbst zu bestimmen, was wir essen, trinken oder rauchen, wegzuwerfen. In diesem großen und immer größer werdenden Lebensbereich haben wir das Prinzip aufgegeben, dass der Staat unser Diener und nicht unser Herr ist. Dies zeigt sich ganz besonders deutlich, wenn Menschen mit Leidensmiene darauf pochen, dass wir eine Regierung bräuchten, die uns vor den Risiken »gefährlicher« Drogen schützt. Dieser Ruf nach staatlichem Schutz vor Drogen – eigentlich: nach Schutz vor der Versuchung Drogen zu nehmen – steht meiner Ansicht nach symbolisch für unsere kollektive Selbstherabsetzung, die aus uns Kinder macht, die unfähig sind, sich selbst zu kontrollieren, und er steht für unsere kollektive Verklärung des Staates zu einem wohltätigen elterlichen Fürsorger, der zur Kontrolle seiner kindlichen Zöglinge verpflichtet ist.
In der Tat können Drogen – im Guten wie im Schlechten – starke Auswirkungen auf unseren Körper und unsere Gesundheit haben. Wir brauchen deshalb private Organisationen von Freiwilligen – für manche auch die Regierung –, um uns vor den Gefahren von Heroin, Salz oder einer zu fettreichen Ernährung zu warnen. Aber es ist eine Sache, wenn unsere selbsternannten Beschützer uns darüber informieren, welche Substanzen sie für gefährlich halten, es ist aber eine ganz andere Sache, wenn sie uns dafür bestrafen, dass wir nicht einer Meinung mit ihnen sind oder ihre Wünschen ablehnen.
(Dies ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels von Thomas Szasz in: Ronald Hamowy (Hg.), »Dealing with Drugs«, Pacific Research Institute, San Francisco 1987.)
Übersetzung: Roman B./Jan Groth
Das Original dieses Textes erschien im April 1990 unter http://fff.org/explore-freedom/article/morality-drug-controls/. Wir danken Thomas Szasz für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.