Thomas Szasz speaks
Natasha Mitchell im Gespräch mit Thomas Szasz [1]
Als das Buch »The Myth of Mental Illness« [2] 1961 erschien, schlug es weltweit hohe Wellen, hauptsächlich bei den vielen als geisteskrank diagnostizierten Menschen und bei den Psychiatern, die sie behandelten.
Etwa 50 Jahre später, am Vorabend seines 89. Geburtstages, ist der Autor dieses Buches, zugeschaltet aus New York, bei mir zu Gast. Er ist eine umstrittene Persönlichkeit: Professor emeritus Thomas Szasz wurde in Ungarn geboren und ist heute in New York zu Hause. Er ist Psychiater und Libertärer und vertritt Ansichten, die bei einigen Ärger und Wut, bei anderen Neugier und Interesse hervorrufen werden. Und er ist einer von den Gästen, die die Zuhörer garantiert dazu bringen, während der Sendung laut mit dem Radio zu sprechen.
Professor Szasz hat viele ethische und rechtliche Debatten über komplexe Probleme, wie über die Rolle des Psychiaters, die Klassifikation und Diagnostik psychischer Krankheiten, Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit (insanity defence), Drogenlegalisierung, Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung, Menschenrechte oder auch über ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung (patient-assisted suicide) ausgelöst; so viele, dass sogar seine Kritiker sein enormes Werk mit Kommentaren wie dem folgenden anerkennen: »Szasz hat der Psychiatrie einen einzigartigen Dienst erwiesen, indem er immer wieder auf die Rechte der Patienten hingewiesen und den im Namen von Behandlung stattfindenen Missbrauch bekämpft hat.«
Oder dieser Kommentar: »Mehr als jeder andere hat Szasz Interesse an Recht und Psychiatrie geweckt.« Diese Kommentare stammen aus der Sammlung kontroverser Essays »Szasz Under Fire: The Psychiatric Abolitionist Faces His Critics« [3] (Szasz im Fadenkreuz: Der Streiter für die Abschaffung der Psychiatrie stellt sich seinen Kritikern).
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Mitchell: Thomas Szasz, Sie wurden 1920 in Budapest geboren, flüchteten aber mit Ihrer Familie und emigrierten in die USA. Das war 1938, damals waren Sie achtzehn Jahre alt. Man hört von Ihnen, dass sie schon lange bevor Sie ihre medizinische Ausbildung begannen, sogar bevor Sie in die USA kamen, zu der Ansicht gelangt waren, dass Geisteskrankheiten gar keine Krankheiten im eigentlichen Sinne sind. Ihre Überzeugungen wurden also schon sehr früh geformt. Da drängt sich mir die Frage auf, was Sie dazu brachte, sich als Arzt und Psychiater ausbilden zu lassen.
Szasz: Kurz gesagt lag das daran, dass ich mich schon relativ früh für Medizin und »harte« Wissenschaft interessierte. Auf Grund der damals sehr guten Bildungsmöglichkeiten in Budapest erhielt ich eine ausgezeichnete Ausbildung in Chemie, Physik, Mathematik und auch in den Geisteswissenschaften. Ich lebte in einer sehr intellektuellen Atmosphäre, auch dank meiner Familie. Ich verschlang Bücher geradezu und verstand sehr früh, was eine Krankheit im modernen wissenschaftlichen Sinne ist: eine Krankheit ist eine Art von Abnormität des menschlichen Körpers. Geist oder Seele dagegen sind offensichtlich etwas Semantisches, Sprachliches; sie sind kein Teil des Körpers. Damit hatte ich meine erste Fragestellung hinsichtlich des Begriffes »Geisteskrankheit«.
Die zweite Fragestellung betraf eine Besonderheit, die Geisteskrankheit wie auch die psychiatrische Profession am offensichtlichsten von allen anderen Gebieten der Medizin unterscheidet, nämlich die Tatsache, dass Psychiatriepatienten im Allgemeinen eingesperrt werden, wenn sie krank sind. Sie sind Gefangene, nicht Patienten. Sie können in ein Krankenhaus gehen, können es aber nicht wieder verlassen. Das ist heute natürlich immer noch so. Also zählte ich zwei und zwei zusammen und zog den Schluss, dass es sich dabei um ein soziales Phänomen handeln muss, das nichts mit Medizin zu tun hat. In der Literatur lassen sich in der Tat zahlreiche Belege dafür finden. Ich denke da an Tschechow, der selbst Arzt war und einige Erzählungen darüber geschrieben hat. In meinen Augen die beeindruckendste Erzählung, die ich auch jedem zur Lektüre empfehlen möchte, ist die Novelle »Krankenzimmer Nr. 6«, geschrieben um 1892. Der Protagonist, ein Psychiater [der zum Patienten in seiner eigenen Anstalt wird, d.Ü.] bezeichnet darin diesen Ort als Konzentrationslager.
Natürlich gab es auch in Budapest während meiner Kinder- und Jugendjahre eine Psychiatrie. Ich las die Zeitungen, ich hörte Geschichten von Leuten und es war klar, dass das kein Ort war, an dem man sich gerne aufhalten würde, denn dort waren schließlich Menschen eingesperrt.
Das ist schon die ganze Geschichte.
Mitchell: Sie sagen, dass sie Medizin nicht deshalb studierten, um später zu praktizieren, sondern um zu erfahren, was Medizin ist. Gilt das auch für Ihre Ausbildung zum Psychiater?
Szasz: Nicht ganz. Ich habe in meiner Jugendzeit auch mitbekommen, dass Psychiatrie nicht nur im Einsperren von Menschen besteht. Es gab noch eine andere Art von Psychiatrie, »Psychoanalyse« genannt, die nicht lange vor meiner Geburt entstanden war. Das war ganz offensichtlich eine Form von Beratung oder Lebenshilfe. Zwei Menschen, ein Analytiker und ein Patient, sprachen miteinander. Der Analytiker versuchte, dem Patienten zu helfen, der Patient lebte zu Hause und bezahlte den Arzt wie jeden anderen Fachmann. Das war der Aspekt von »Psychiatrie«, der mich eigentlich interessierte.
Mitchell: Die amerikanische Tradition der Psychoanalyse, der Sie als junger Mann während Ihrer Ausbildung in den 50er Jahren begegneten, war sehr verschieden von der europäischen Tradition Ihrer Jugend.
Szasz: Sie war nicht nur verschieden, sondern das genaue Gegenteil. Sie war völlig medizinalisiert. Die Analytiker glaubten alle, sie würden Geisteskrankheiten behandeln. Sie hatten natürlich keine Kriterien für eine Geisteskrankheit. Sie nannten andere Menschen dann geisteskrank, wenn sie sie nicht leiden konnten. Aber das war kein Problem für mich, denn ich behielt meine Gedanken solange für mich, bis ich halbwegs ökonomisch abgesichert war.
Diese Analytiker übten aber immer noch eine Art Psychoanalyse aus, eine intime vertrauliche Unterredung, und ich war wunschlos glücklich damit, diese Kunst, wenn man das so nennen will, zu erlernen und nahezu mein ganzes Leben lang – fast 50 Jahre – auszuüben.
Mitchell: Wir werden später noch einmal auf Ihre Ansichten zur Psychotherapie zurückkommen. Sie haben während dieser vielen Jahre unzählige Bücher geschrieben. Lassen Sie uns nur an Ihr vielleicht berühmtestes und umstrittenstes Buch, »The Myth of Mental Illness«, erinnern. Es erschien 1961 und erzeugte damals ein gehöriges Maß an Verunsicherung in der psychiatrischen Profession – und tut es bis zu einem gewissen Grade bis heute. Sie bezeichnen in dem Buch Geisteskrankheit als eine Fiktion, als eine Metapher, und die Psychiatrie als ein pseudowissenschaftliches und betrügerisches Gewerbe (racket). Könnten Sie uns genauer erklären, was Sie mit »Geisteskrankheit ist eine Metapher« meinen?
Szasz: Es ist eine Metapher in genau dem gleichen Sinne, wie die Begriffe Geist, Bewusstsein oder Psyche (mind) Metaphern sind. Es gibt keine Psyche und auch keinen Geist. Wir glauben, dass unser Geist sich erinnert, spricht, denkt oder Gefühle hat. Das ist eine Fiktion, obwohl wir alle denken, wir hätten eine Psyche oder einen Geist. Das ist in fast jeder Sprache linguistisch problematisch und besonders im Englischen, wo »mind« seit dem 18. Jahrhundert als Substantiv gebraucht wird. Ursprünglich gab es im Englischen »mind« nur als Verb, wie in »minding the store« [dt. etwa: sich um den Laden kümmern]. Und genau das ist es, was ich mit Metapher meine: ein Verb ist etwas, das wir tun, es ist nichts, was wir haben oder besitzen können.
Mitchell: Sie haben Geisteskrankheit als Metapher oder auch als Erfindung bezeichnet, als Mythos, vergleichbar mit anderen Erfindungen wie Hexen, Einhörnern, Seejungfrauen, der Sphinx, Gespenstern oder sogar Gott. Damit stellen Sie sich doch quer zu einer Auffassung, die von einer ziemlich großen Anzahl intelligenter Leute – von Ärzten, Anwälten, Ihren eigenen Kollegen – geteilt wird, nicht wahr?
Szasz: Es sind nicht annähernd so viele, wie Sie annehmen. Das ist nur vernünftig: Wo kann man einen Geist oder eine Psyche finden? Sie können sie nicht sehen, Sie können sie nicht messen, also existieren sie nach wissenschaftlichen Standards auch nicht.
Mitchell: Würden Sie denn abstreiten, dass wir geistig-seelische Erfahrungen machen, die uns Probleme bereiten?
Szasz: Nein, ganz und gar nicht, und ich möchte es jetzt auch nicht zu kompliziert machen. Nein, wir machen keine »geistig-seelischen Erfahrungen«. Wir machen als Person Erfahrungen, die wir uns ins Bewusstsein bringen. Sehen Sie, das ist es, was das Bewusstsein (mind) ist: jener geheimnisvolle Raum, den wir mit Dingen füllen. Das ist tatsächlich ein philosophisches Problem, das die Fachleute nicht erst seit heute beschäftigt.
Mitchell: Sie haben in »The Myth of Mental Illness« behauptet, dass Krankheiten genau genommen nur den Körper betreffen könnten, dass Gedanken und Stimmungen, anders als Galle und Urin, keine materiellen Dinge seien und es deshalb so etwas wie Geisteskrankheit nicht geben könne. Halten Sie damit nicht eine falsche Dichotomie zwischen Geist und Körper aufrecht, wo es doch heute eine allgemein anerkannte Tatsache ist, dass unser Verhalten und die Psyche, die dieses Verhalten steuert, eine biologische Grundlage im Gehirn haben?
Szasz: Das ist richtig. Alles hat eine Grundlage in einem biologischen Organ. Das ist beispielsweise auch im Laufsport der Fall. Aber wenn jemand gut oder schlecht läuft und er sonst als körperlich normale Person gilt, dann schreiben wir seine Leistung nicht seinen Beinen zu, sondern der Person. Mir fällt es schwer, das zu erklären, denn für mich ist das Ganze offensichtlich. Die Vorstellung von einer Dichotomie zwischen Geist und Körper und von der Existenz eines Bewusstseins oder einer Psyche verdanken wir der Sprache, die wir selbst geschaffen haben.
Lassen Sie uns über »Geisteskrankheit« sprechen. Was sind Geisteskrankheiten? Geben Sie mir ein Beispiel für eine Geisteskrankheit.
Mitchell: Nehmen wir eine Geisteskrankheit, die Sie als das »Heilige Symbol« der Psychiatrie [4] bezeichnet haben: Schizophrenie.
Szasz: Dann würden wir mit der schwierigsten anfangen. Nehmen wir für den Anfang etwas Einfacheres.
Mitchell: Einverstanden. Was ist mit Depression?
Szasz: Was unterscheidet eine Depression von Traurigkeit? Depression ist die persönliche Empfindung, sich schlecht zu fühlen, sich erschöpft, hoffnungslos und hilflos zu fühlen – es ist in vielerlei Hinsicht ein normales Gefühl von jemandem, der sich in einer schlimmen Lebenssituation befindet, der plötzlich sein Geld verloren hat oder plötzlich krank geworden ist. Oder es ist typischerweise ein Gefühl, das alte Menschen haben (glücklicherweise geht es mir so weit gut). Wenn Sie sich ein Pflegeheim anschauen, dann ist das, was Sie vorfinden, ein deprimierender Ort. Was hat das mit »Depression« zu tun? Jeder ist depressiv.
Mitchell: Sicherlich hat es Bemühungen von interessierter Seite gegeben, Depression als Krankheit zu bezeichnen, vor allem, wenn diese lange anhält und tiefverwurzelt ist. Sie bestreiten, dass es sich überhaupt um eine Erkrankung handelt.
Szasz: Ganz genau. Wenn wir zum Beispiel zurückgehen zu den klassischen Beschreibungen menschlichen Verhaltens, den besten und ältesten, die wir haben: war Hiob depressiv? War Lady Macbeth depressiv? Das ist es, was Psychiater heute behaupten. Macbeth hatte gute Gründe, sich schlecht zu fühlen. Sie war des Mordes schuldig und sie half sich mit einer der gebräuchlichsten Behandlungen von Depression: Selbstmord. Menschen reden natürlich nicht so, es ist allen klar, dass das ein Tabu ist. Selbstmord gilt ja auch als Krankheit.
Mitchell: Selbstmord als »Selbstbehandlung« oder als »Behandlung« zu bezeichnen, das zu hören ist sicherlich für viele Menschen schwer zu ertragen.
Szasz: Warum? Es löst das Problem. Warum begehen Menschen Selbstmord? Um aus dem Leben zu verschwinden, um dieses Problem loszuwerden.
Mitchell: Dieser umstrittene Standpunkt zum Thema Selbstmord steht im krassen Widerspruch zu den weltweiten Bemühungen um Strategien zur Suizid-Prävention. Er ist eng verbunden mit dem Vorrang, den Sie der individuellen Freiheit einräumen. (Wir werden darauf noch zurückkommen.) Aus dieser Haltung heraus lehnen Sie auch den ärztlich unterstützten Suizid ab und sprachen sich gegen die Entscheidung aus, Terri Schiavo die lebenserhaltenden Maßnahmen zu entziehen.
Seit nunmehr 50 Jahren vertreten Sie die Ansicht, dass die westlichen Gesellschaften sich in der Vergangenheit von einer Theokratie bzw. einem theologischen Staat zu einer Demokratie entwickelt hätten, wir heute aber in einer »Pharmakratie« oder einem »Therapeutischen Staat« leben würden. Was meinen Sie mit dieser Idee eines Therapeutischen Staates, über den Sie so viel geschrieben haben?
Szasz: Zum Teil meine ich unsere Sprache, die Tatsache, dass wir über Depression als eine Krankheit diskutieren oder über Schulangst, Angst vor Fahrstühlen oder Schizophrenie als Krankheit.
Mitchell: Wer sind Ihrer Ansicht nach die Hüter des Therapeutischen Staates?
Szasz: Wer waren die Hüter des Theokratischen Staates? Der Papst hatte keine Armeen, wie Stalin sagte [5]. Warum glauben Menschen an den Papst? Weil sie ihn als Autorität anerkennen, wenn sie Katholiken sind. Warum glauben Menschen an das Rabbinat in Israel? Wenn sie Juden sind, dann glauben sie zu wissen, wie sie leben sollen und dass man kein Schweinefleisch essen und am Samstag nicht arbeiten sollte usw. Und wir glauben an diese pseudomedizinischen Erfindungen. Nebenbei gesagt: es gibt nicht besonders viele Ärzte, die für sich selbst auf die üblichen psychiatrischen Behandlungsmethoden zurückgreifen. Ich kenne keinen Arzt, der sich einer Lobotomie unterzogen hätte und nur sehr, sehr wenige haben sich freiwillig mit Elektroschocks behandeln lassen.
Mitchell: Das lässt sich schwer quantifizieren …
Szasz: Nein, das ist nicht schwer zu quantifizieren. Es gibt Statistiken, man kann mit Leuten reden. Es ist allseits bekannt, dass psychiatrische Behandlungen für das normale Volk gedacht sind.
Mitchell: Sie sagen also, dass Psychiater und Ärzte die eigentlichen Hohepriester dessen sind, was Sie als den Therapeutischen Staat bezeichnen.
Szasz: Schauen Sie, in Amerika gibt es eine Person, die Surgeon General (Leiter der amerikanischen Gesundheitsbehörde) genannt wird. Vor einigen Jahren ließ dieser Surgeon General die Welt wissen, dass Rauchen schlecht für uns ist. Nun, ich wusste schon als Fünfjähriger, dass Rauchen schlecht für mich ist. Das weiß man seit 150 Jahren. Apropos Metaphern: Es gibt jetzt Bücher, in denen über Liebeskummer als eine Krankheit gesprochen wird. Viele dieser Autoren sind Psychologen, die als eine Art Pseudomediziner auftreten. Was aber ist Liebeskummer? Wenn Ihr »Herz gebrochen« ist und wir davon ausgehen, dass Geist und Körper getrennt sind, dann haben Sie keine koronare Herzerkrankung oder einen Herzinfarkt. Sie haben ein »gebrochenes Herz«. Jeder weiß, was damit gemeint ist.
Menschen glauben, dass sie in ihrem Körper leben würden. Nun, ich sage Ihnen – und das ist auch keine neue Idee – dass Menschen in Wirklichkeit in ihrer Sprache leben. Man lernt das auf die harte Tour, wenn man Immigrant ist, denn wenn man wirklich in die Gesellschaft integriert sein will, dann muss man seine alte Sprache verlieren. Jeder, der dies hört, weiß, dass es wahr ist und dass der einzige Weg, dies zu umgehen der ist, an der alten Sprache festzuhalten. Das sind dann jene Leute, die vielleicht schon seit einer Generation hier leben, die mit 25 hierher kamen und mit 60 oder 70 immer noch ihre alte Sprache sprechen.
Mitchell: In welcher Beziehung steht Sprache zu Ihrer Kritik der Geisteskrankheit?
Szasz: Sie wissen, was Psychiater als »Schizophrenie« bezeichnen. Sie nennen es eine »Denkstörung«, deren Hauptsymptom das sei, was sie als »Sprachsalat« oder »Kauderwelsch reden« bezeichnen. Hier geht es um ein sprachliches Phänomen: Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Patientin im Sprechzimmer eines Psychiaters oder eines Arztes, und Sie sagen nichts. Sie sind dort von jemandem hingebracht worden, der sagt: »Das ist Joe. Er ist krank. Untersuchen Sie ihn.« Der Arzt untersucht Sie und kann keine körperliche Erkrankung finden. Nicht einmal haben Sie bisher ihren Mund aufgemacht. Wie kann der Arzt jetzt eine Schizophrenie diagnostizieren?
Mitchell: Ich nehme an, er schaut nach Anzeichen im Verhalten, ob sie bestimmten Kriterien entsprechen.
Szasz: Was war das Wort, das Sie gerade benutzt haben?
Mitchell: Anzeichen im Verhalten.
Szasz: Das Schlüsselwort ist hier »Verhalten«. Deshalb bezeichnen Psychiater Geisteskrankheit oft als »Verhaltensstörung«. Aber Verhalten ist keine Krankheit – es kann keine Krankheit sein. Nur der Körper kann eine Krankheit aufweisen.
Mitchell: Das ist nicht ganz unproblematisch, oder? Krankheit ist ein heikler Begriff, selbst in der Medizin. Er korrespondiert nicht immer mit einer bestimmten Verletzung oder Pathologie. Krankheit ist ein höchst umstrittener Begriff in der medizinischen Profession.
Szasz: Ja, er wird auch metaphorisch benutzt. Tatsache ist aber folgendes: Wenn Sie als Durchschnittsbürger beschließen, sich einmal gründlich untersuchen zu lassen – Sie sind schließlich schon 55 und Ihre Familiengeschichte ist nicht so rosig – und Sie machen einen Termin mit einem guten Arzt, dann bestehen durchaus Chancen, dass Sie zwei oder drei Wochen vor dem Termin zu einem Labor geschickt werden, wo man Ihnen dann vier oder fünf Ampullen Blut abnimmt und wo alle möglichen Routineuntersuchungen durchgeführt werden. Möglicherweise werden Sie auch zu einem Radiologen geschickt, damit eine Röntgenaufnahme Ihrer Brust gemacht werden kann. Erst dann wird der Arzt sich mit Ihnen befassen. Wonach sucht er? Er versucht herauszufinden, ob Sie Tuberkulose haben oder an AIDS, Syphilis, Bluthochdruck oder Diabetes usw. leiden. Er untersucht Ihren Körper, Ihre Körperflüssigkeiten. Aber das ist nicht das, was Psychiater tun.
Mitchell: Was tun Psychiater Ihrer Meinung nach?
Szasz: Ich habe ein Buch darüber geschrieben, das Ihnen vielleicht bekannt ist: »Der Mythos der Psychotherapie« [6]. Darin sage ich, dass Psychiater eines der drei folgenden Dinge tun: Religion, Rhetorik und Repression. Das möchte ich erklären: Religion bedeutet zunächst für Psychiater, sich mit menschlichen Wertvorstellungen zu befassen. Sie fordern Leute dazu auf, ihre Laune zu verbessern oder sich nicht wegen diesem oder jenem schlecht zu fühlen. Sie beraten sie. Das ist auch Rhetorik. Rhetorik ist die Benutzung von Sprache, um Menschen zu beeinflussen. Das ist das klassische griechische Verständnis von Rhetorik. Heute ist dieser Begriff leider dadurch ziemlich in Verruf geraten, weil man von »politischer Rhetorik« spricht, obwohl es sich dabei um eine Form der Lüge handelt. Aber Rhetorik ist Drama, Theater, Film. Psychotherapie ist Rhetorik.
Heute ist Repression die Hauptbeschäftigung der Psychiater. Die Psychiatrie würde verschwinden, wenn morgen die rechtlichen Regelungen zur Schuldunfähigkeit und verminderten Schuldfähigkeit (insanity defense) in all ihren Formen und die zur psychiatrischen Zwangsunterbringung abgeschafft würden. Psychiater sperren Menschen ein oder zwingen diese auf andere Weise, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen, wie beispielsweise eingeschlossen zu sein, Drogen zu nehmen oder elektrogeschockt zu werden. Und/oder sie liefern Entschuldigungen für Leute, die etwas Schlechtes getan haben und dadurch mit dem Gesetz in Konflikt gekommen oder in persönliche Schwierigkeiten geraten sind. Die Psychiater treten dann bei Gericht auf und behaupten beispielsweise, dass diese Person psychisch krank und nicht verantwortlich für das sei, was sie getan hat.
Mitchell: Ich denke, viele Psychiater finden die Zunahme sozialer, politischer und persönlicher Macht, die Sie angesprochen haben, höchst bedenklich. Lassen Sie uns zu einem der vielleicht umstrittensten Themen Ihrer Kritik kommen. Ich spreche von der Berufung auf Schuldunfähigkeit, dass Leute in ein Krankenhaus eingewiesen werden, statt im Gefängnis zu landen, wenn sie sich erfolgreich auf Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit berufen konnten. Sie nehmen hier eine sehr harte Haltung ein und Sie haben früher in einigen sehr wichtigen Verfahren auf Klägerseite das Unschuldsplädoyer unter Berufung auf eine geistig-seelische Störung des Angeklagten als unzulässig zurückgewiesen. Ich frage mich, weshalb Sie sich so große Sorgen wegen der Möglichkeit machen, eine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit zugunsten des Angeklagten ins Spiel zu bringen, wenn es sich doch für viele Leute dabei um eine großartige humanisierende Kraft in der Rechtsprechung handelt.
Szasz: Lassen Sie mich das erklären. Psychiatrie ist natürlich nicht eine Art von Verschwörung gegen die Bevölkerung. Sie ist Bestandteil der »sozialen Fabrik«, des »sozialen Gewebes« der Gesellschaft, in der wir leben und die wir kennen. Mein besonderes Interesse für die Idee von »Schuldunfähigkeit« oder »verminderter Schuldfähigkeit« hat wissenschaftliche Gründe, die das Denken und die Rhetorik betreffen. Diese Idee ist fester Bestandteil und vielleicht die wichtigste Säule dieser »sozialen Fabrik«, wichtiger noch als Zwangsunterbringung. Und sie ist eine Verbindung zu dem falschen Begriff der Geisteskrankheit. Wir haben bei uns einen juristischen Verfahrensablauf klassisch angelsächsischer Tradition, von dem ich an sich fest überzeugt bin. Er ist – bezogen auf andere Kulturen – ziemlich einzigartig in der Welt. Und er ist historisch einzigartig. In Australien, in Neuseeland, in Kanada, in Amerika, in England wird Ihnen garantiert, dass Ihnen nur mit sehr, sehr geringer Wahrscheinlichkeit die Freiheit entzogen wird, wenn Sie nicht durch eine Jury eines Verbrechens für schuldig befunden werden. Sie haben ein Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Verantwortung. Das sind die grundlegenden zivilisatorische Konzepte nach denen wir leben.
Nun können Sie zwar beweisen, dass Sie unschuldig sind. Aber können Sie auch beweisen, dass Sie nicht schizophren sind? Das können Sie nicht.
Mitchell: Sie sehen die rechtlichen Regelungen der Schuldunfähigkeit und verminderten Schuldfähigkeit als eine Verletzung der Prinzipien der auf Rechtsstaatlichkeit basierenden Freien Gesellschaft an.
Szasz: Genauso ist es.
Mitchell: Allerdings ist überzeugend darauf hingewiesen worden, dass es sich dabei um die Anerkennung der Tatsache handelt, dass einige Menschen deshalb nicht für strafrechtlich verantwortlich angesehen werden können, weil sie aufgrund ihres Geisteszustandes zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage waren, Richtig und Falsch voneinander zu unterscheiden.
Szasz: (Ihre Fragen sind wunderbar, Natascha! Vielen Dank.) Mit diesem Punkt könnten wir das ganze Interview verbringen.
Sie sagten, dass sie zum Zeitpunkt der Tat für die kriminelle Handlung nicht verantwortlich gewesen seien. Als Beispiel für einen typischen Fall lassen Sie uns annehmen, dass ein junger Mann einen anderen jungen Mann am 1. Januar tötet. Am 2. Januar wir er verhaftet. Er sitzt nun im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess. Die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb der nächsten acht oder neun Monate zu einer Gerichtsverhandlung kommt, ist ausgesprochen gering. Aber auch wenn es nur acht Tage wären, so wäre dies für mein Argument unerheblich. In dieser Zeit vor der Verhandlung wird er von einem Psychiater untersucht, der dann während der Verhandlung feststellt, dass hier die M'Naghten-Regel [7] in Anwendung gebracht werden müsse. In Wirklichkeit hat der Psychiater den jungen Mann zum Zeitpunkt der Tat aber gar nicht gesehen, sondern erst acht Tage oder acht Monate später.
Mitchell: Was stört Sie daran? Sicherlich hat das etwas mit der Kritik zu tun, der Sie wegen Ihrer Rolle als Sachverständiger ausgesetzt waren. Man hat Ihnen vorgeworfen, dass Sie Ihr Urteil gefällt hätten, ohne den Beschuldigten begutachtet zu haben. Von einigen wurden Sie sogar der Verantwortungslosigkeit und der medizinischen Inkompetenz bezichtigt, weil Sie Aussagen über einen Patienten gemacht hätten, ohne ihn vorher untersucht zu haben.
Szasz: Natürlich deshalb, weil dies Ketzerei ist. Sogar der Begriff »psychiatrisches Gutachten« ist nicht korrekt, weil ich immer mit der Einstellung vor Gericht ausgesagt habe – und das immer nur auf Klägerseite und nur in sehr wenigen Fällen –, dass ich den Beschuldigten nicht untersuche, weil ein Beschuldigter, der kein Patient ist, so lange nicht zum Patienten wird, bis er von jemandem als solcher bezeichnet wird. Er ist nicht krank und mein Gutachten besagt, dass es Aufgabe der Jury ist, zu entscheiden, ob er schuldig ist oder nicht, und nicht die eines Experten, der bei der Tat genausowenig dabei war und der nicht mehr darüber weiß, was vorgefallen ist, als die Jury.
Mitchell: Aber würden Sie zugeben, dass Menschen nicht unbedingt in der Lage sind, die Konsequenzen ihrer Handlungen einzuschätzen.
Szasz: Auf jeden Fall.
Mitchell: Könnte das dann nicht ein Grund dafür sein, von Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit auszugehen?
Szasz: Nein, das kann ein Grund sein, Menschen als dement oder senil zu bezeichnen. Da geht es um alte Menschen. (Mein Gott, wenn ich lange genug lebe, kann es mir auch passieren, dass ich nicht mehr weiß, wer meine Tochter ist.) So etwas wird als »Inkompetenz« (incompetence) bezeichnet. Inkompetente Menschen sind schlechterdings unfähig, ein kompliziertes Verbrechen zu begehen.
Wer ist heute in Amerika der typischste unzurechnungsfähige Angeklagte? John Hinckley Jr., ein junger Mann, der seit nunmehr ungefähr 26 oder 27 Jahren von Schizophrenie geheilt wird. Er versuchte damals, Präsident Reagan zu erschießen, und schaffte es, innerhalb weniger Sekunden Reagan und zwei andere Personen mit Schüssen zu verletzen. Das war also eine Leistung, die sehr viel Koordination verlangt. Ich vergleiche ihn mit einem Toscanini, der genial war, wenn es darum ging, Menschen zu erschießen. Er war nicht inkompetent. Er brachte Schande über seine Familie, beging ein schweres Verbrechen und er wurde gegen seinen Willen für geisteskrank erklärt. Ihm gelang es, dem Magazin Newsweek einen Brief zukommen zu lassen, der auch veröffentlicht wurde, und in dem er zu verstehen gab, dass er sich schuldig bekennen wolle. Aber nach dem Gesetz konnte er sich nicht schuldig bekennen. In Amerika kann man sich nicht eines Kapitalverbrechens schuldig bekennen, denn dies käme einem Selbstmord mit staatlicher Hilfe gleich. Das ist ein juristisches Spiel.
Mitchell: Thomas Szasz, Ihre Position ist nicht einfach zu verstehen: auf der einen Seite sind Sie für viele antipsychiatrische Aktivisten die Gallionsfigur ihrer Bewegung, andererseits sind Ihre Charakterisierungen von Menschen, die mit schweren psychiatrischen Erkrankungen diagnostiziert wurden, ziemlich hart. Sie werfen Personen ihr ungesundes Verhalten vor. Sie legen ihnen nahe, dass sie, wie Sie es ausdrücken, Verantwortung für ihre missliche Lage übernehmen und einen ernsthaften Versuch unternehmen müssten, sich selbst zu helfen.
Szasz: Das ist völlig richtig. Ich mache sie nicht für ihr Verhalten verantwortlich, es sei denn, sie sehen es selbst als falsch oder schlecht an, übernehmen aber nicht die Verantwortung dafür, es zu ändern. Eine Analogie, die ich gerne benutze ist folgende: Nehmen Sie die Situation eines Immigranten. Für seine fehlenden Englischkenntnisse ist er nicht verantwortlich, wenn er hierher kommt. Ist er inkompetent? Nein. (Viele solcher Menschen sind durch Psychiater als inkompetent bezeichnet worden, weil sie die Sprache nicht beherrschten. Der Psychiater war verwirrt, der Patient war verwirrt, und am Ende wurde letzterer eingesperrt. Das ist eine typische Geschichte. Aber lassen Sie uns erst mal weitermachen. Es gibt unzählige Analogien, die man hier anführen könnte.) Der Mann lebt jetzt in einem Land, in dem seine eigene Muttersprache nicht gesprochen wird. Er hat also ein Problem, richtig? Nun, wofür ist er verantwortlich? Hat er eine Verantwortung dafür, die Sprache des jeweiligen Landes zu erlernen? Ja oder nein?
Mitchell: Wie sie wissen, war der Psychiater Professor Ronald Pies verwundert über diese Argumentation. Er stellte Ihnen folgende Frage: Was ist mit dem jungen Mann, der auf Stimmen eines »CIA-Computers« antwortet, die ihm befehlen, sich umzubringen, während er, sich dabei vor- und zurückwerfend, in einer Lache seines eigenen Urins sitzt? Sie wissen, dass dieser Mann nicht deshalb gegen seinen Willen in ein Krankenhaus gebracht wird, um ihn zu schikanieren, sondern um einen Prozess in Gang zu bringen, der seine Menschlichkeit wiederherstellt. Ich frage mich, ob Sie nicht das Leiden der Menschen leugnen, wenn Sie ihnen ihr extremes Verhalten und ihre oft sehr schrecklichen Lebensumstände vorwerfen.
Szasz: Nun, es ist unmöglich, auf so eine Frage zu antworten, denn sie beruht auf einer Geschichte, die von der Richtigkeit und Legitimität der psychiatrischen Sichtweise ausgeht. Wo ist der Mann, der sich in seinem eigenen Urin vor- und zurückwirft? Ich habe in 50 Jahren Psychiatrie niemals solch eine Person gesehen – wo ist er, wie kam er dahin? Wer ist er und woher weiß ein Psychiater, dass der Mann mit der CIA spricht? Es gibt nur einen Weg, wie jener davon erfahren haben kann, nämlich dadurch, dass der Patient mit ihm gesprochen und ihm gesagt hat, dass die CIA mit ihm rede. Angenommen, er würde mir das erzählen, dann würde ich ihm sagen: Glückwunsch! Sie sind eine sehr wichtige Person. Das verstößt nicht gegen das Gesetz.
Mitchell: In Ihren Augen sind die Stimmen und Halluzinationen der Schizophrenie die eigenen Stimmen einer Person, deren Urheberschaft sie jedoch verleugnet; verleugnete Selbstgespräche oder illusionäre Fehleinschätzungen oder auch Lügen, an deren Richtigstellung der Patient kein Interesse hat. Das ist hart. Sie sind ziemlich hart in ihrer Beurteilung von Menschen.
Szasz: Wie Sie sehen, haben Sie den Kern meines Denkens richtig erfasst. Die Leute glauben, dass ich irgendwie nachsichtig mit »Patienten« sei. Ich bin weder nachsichtig noch streng. Ich behandele sie als Menschen, als ob sie ich wären, oder meine Kinder, oder meine Freunde. Ich nehme sie ernst. Diese »Patienten« sind nicht weniger menschlich. Wenn ein Internist oder ein anderer Arzt einen Patienten mit einer gebrochenen Hüfte, Diabetes oder Bluthochdruck hat, dann behandelt er ihn wie einen ganz normalen Menschen, das heißt wie jemand, der nicht weniger menschlich ist als Sie oder der Arzt selbst. Nur in der Psychiatrie findet man diese weitverbreitete paternalistische Haltung. Die von Ihnen zitierte Geschichte ist ein typisches Beispiel dafür. In ihr erscheint der Patient als eine Art Tier, das aus seiner misslichen Lage befreit werden müsse. Das stimmt aber nicht. Psychiatrie ist deshalb paternalistisch, weil sie andere Menschen als Minderwertige behandelt. Auf Psychoanalyse trifft das gewöhnlich nicht zu.
Mitchell: Allerdings wurde auch der Psychoanalyse professionelles Fehlverhalten und Missbrauch der Arzt-Patient-Beziehung vorgeworfen.
Szasz: Das ist in der Tat so. Fehlverhalten und Missbrauch sind Bestandteil des menschlichen Lebens. Im Leben gibt es zweifellos keinen Bereich, wo eine Beziehung nicht missbraucht werden könnte. Priester, Psychoanalytiker – ich will sie nicht verteidigen. Bezüglich der Psychoanalyse ging es mir nur darum, auf einen besonderen Punkt hinzuweisen, von dem Sie noch nie gehört haben und von dem Sie vermutlich auch nie wieder etwas hören werden, dass nämlich in der Anfangszeit der Psychoanalyse die typische Arzt-Patient-Beziehung dadurch gekennzeichnet war, dass die Patienten über viel mehr Macht und Geld verfügten und einer höheren sozialen Schicht angehörten als ihr Arzt und Analytiker Freud. Freud war ein armer jüdischer Hausarzt in Wien. Praktisch alle seine Patienten gehörten einer höheren Schicht an und hatten bedeutend mehr Geld und gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten als er.
***
Mitchell: Thomas Szasz, gemeinsam mit der Scientology-Kirche gründeten sie 1969 die Citizens Commission on Human Rights. Die meisten von uns in den Medien kennen seit Jahren deren ziemlich düstere und apokalyptische Schriften, und ich frage mich, weshalb Sie immer noch dem »Board of Advisers« (Beirat) angehören. Sie waren Mitbegründer dieser Organisation, haben damals aber klargestellt, dass Sie selbst kein Scientologe seien – wie sie auch die Bezeichnung »Anti-Psychiater« für sich ablehnen.
Szasz: Ich habe mich damals, zu einem Zeitpunkt, als ich schon lange als Kritiker der Psychiatrie bekannt war, einer Organisation, der »Citizens Commission for Human Rights«, angeschlossen, weil sie damals die einzige Organisation war – und heute noch die einzige Organisation ist – die Geld und Zugang zu Anwälten hatte und die sich aktiv dafür einsetzte, Menschen aus psychiatrischen Krankenhäusern zu befreien, Menschen, die nichts getan hatten, die kein Verbrechen begangen hatten, und die einfach nur aus dem Krankenhaus raus wollten. Das empfand ich damals als ein wertvolles Anliegen und einen hinreichenden Grund. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ich glaube an ihre Religion genauso wenig wie an irgendeine andere Religion. Ich bin Atheist, ich glaube nicht an das Christentum, das Judentum, den Islam, den Buddhismus, und ich glaube nicht an Scientology. Ich habe mit Scientology nichts zu tun.
Mitchell: Sie sprechen davon, dass Scientology viel Geld hat. Geld verschafft Macht. Da kommen wir zu einem Thema, das Sie besonders beschäftigt: der Missbrauch von Macht.
Szasz: Macht ist unerlässlich, weil Menschen mit Macht normalerweise nicht in der Psychiatrie landen.
Mitchell: Würden Sie sich selbst als »Anti-Psychiater« bezeichnen?
Szasz: Natürlich nicht. »Anti-Psychiater«, das klingt wie »Anti-Semit«, »antichristlich« oder sogar »antireligiös«. Ich bin nicht antireligiös, ich glaube einfach nicht daran. Ich habe nichts dagegen, wenn Menschen ihre Religion haben oder zu einem Psychiater gehen wollen. Ich habe auch nichts dagegen, wenn jemand psychiatrische Drogen nehmen will. Deshalb geht »Anti-Psychiater« auch völlig an der Sache vorbei. Ich bin nicht mehr »Anti-Psychiater« als »Pro-Psychiater«. Ich bin für Freiheit und Verantwortung. Verantwortung steht dabei an erster Stelle. Wir machen Kinder verantwortlich, lange bevor wir ihnen die Freiheit geben. So sollte es auch sonst im Leben sein. Menschen sollten die Verantwortung für sich selbst übernehmen und wenn sie es nicht tun, sollten sie auch die Konsequenzen tragen. Ich meine nicht zwangsläufig, dass wir sadistisch sein oder sie bestrafen sollten. Aber sie sollten die Konsequenzen ertragen. Wenn ein Mensch von Drogen abhängig wird, dann sollte er auch die Verantwortung für die Konsequenzen ertragen, denn niemand hat ihn zum Drogenkonsum gezwungen.
Mitchell: Es können auch soziale Umstände sein, die Menschen dazu bringen, Drogen zu nehmen.
Szasz: So ist es. Und die Umstände der Leute können auch zu einer unglücklichen Ehe führen und sie an dieser Ehe leiden lassen. Es ist ihre Aufgabe, sich daraus zu befreien. Und das ist keine leichte Sache. Ich spreche da aus Erfahrung.
Mitchell: Wir sprachen gerade über soziale Macht und diese Vorstellung von einem Therapeutischen Staat, in dem wir Ihrer Ansicht nach bereits leben. Sie sind ein Gegner jeglicher staatlicher Unterstützung, Leitung oder Eingriffe im Gesundheitsbereich. Andererseits beklagen sie aber auch den industriellen Komplex, zu dem die Gesundheitsversorgung in den USA geworden ist. Ich frage mich, ob wir es hier nicht mit einer wirren Form eines extremen Libertarismus zu tun haben.
Szasz: Es ist tatsächlich eine extreme Form des Libertarismus. Aber ich hoffe, keine wirre. Ich bin sehr misstrauisch, wenn es um die Vermischung von Medizin – insbesondere Psychiatrie – und Staat geht, weil ich – der klassischen anglo-amerikanischen Tradition gemäß – den Staat als Mittel zur Ausübung von Macht und Gewalt ansehe, und nicht als Mittel, Gutes zu tun. George Washington sagte in etwa: Hüte Dich vor der Regierung, weil die Regierung nicht Vernunft, sondern Gewalt ist. Das ist letztlich eine politische Auffassung des Staates: der Staat als Mittel, um Macht auszuüben; um in Afghanistan, Iran, Irak oder sonstwo Krieg zu führen.
Mitchell: Er ist aber in vielen Ländern auch ein Mittel, eine öffentliche Gesundheitsversorgung bereitzustellen. Einigen gelingt das besser, anderen nicht so gut.
Szasz: Das ist richtig. Offenbar ist der Staat ein außerordentlich mächtiger Apparat, was nicht in jedem Fall schlecht ist. (Ich bin kein Anarchist!) Er stellt ein Rechtssystem zur Verfügung, das zwar Teil des Staates ist, aber seine eigenen Sicherheitsmechanismen hat, um sich vor sich selbst zu schützen. In der amerikanischen und englischen Tradition sind es diese Sicherungen, die in totalitären Staaten wie Sowjetrussland oder Nazideutschland sofort abgeschafft wurden, und die heute in Westeuropa und in der ganzen westlichen Welt beseitigt werden. Diese Freiheiten werden nach und nach abgebaut, besonders durch das Gesundheitswesen. Wie viele Menschen erhalten heute Gesundheitsversorgung gegen ihren Willen?
Mitchell: Ich frage mich, ob sie da nicht übertreiben, wenn Sie meinen, dass Suizidprävention, rechtliche Regelungen für die Gesundheitsversorgung, schulpsychologische Programme oder Suchtbehandlungen alles pharmakratische Vorschriften und Zwangsmittel sind.
Szasz: Ich betrachte alles als Zwang, was eine Person nicht tun würde, wenn sie in Ruhe gelassen würde. Ich habe hier weniger Probleme, wenn es um Kinder geht, obwohl es sich dabei auch um ein großes Problem handelt. Ich betrachte öffentliche Schulen als eine Form von Gefängnis: das Kind ist gezwungen, dorthin zu gehen. Das war auch in Ungarn so, als ich dort aufwuchs. Das ist nichts Neues, aber Kindheit war schon immer eine Art Quasi-Gefängnis. Mit 18 Jahren wurde man freigelassen und dann war man frei und verantwortlich. Das ist alles, worüber ich spreche, die Gesundheitsversorgung eingeschlossen. Die Idee, dass der Staat Gesundheitsversorgung bereitstellen soll, unabhängig davon, ob man das möchte oder nicht, ist eine sehr beängstigende Idee: sie beängstigt mich, sie ängstigt eine Menge Leute, aber nicht jeden.
Mitchell: Thomas Szasz, sie sind als der Moralphilosoph der Psychiatrie bezeichnet worden. Und in der Tat zählen Sie zu Ihren wichtigsten Lehrern einige große Philosophen der Zeitgeschichte: Karl Popper, Friedrich von Hayek, John Stuart Mill. In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, ob der Libertarismus den Kern Ihrer Lehrer-Schüler-Beziehung zu diesen Personen ausmacht. Sie hatten tatsächlich persönliche Korrespondenz mit Karl Popper in den 80er Jahren.
Szasz: Und auch mit Bertrand Russell, der streng genommen kein Libertärer war. Das ist zwar richtig, entspricht aber nicht der ganzen Wahrheit, denn die ist einfacher und bescheidener. Wer waren denn die Leute, auf deren Schultern dieser Mann stand? John Stuart Mill ist sicherlich einer meiner Helden.
Mitchell: Er bekämpfte die Tyrannei der Mehrheit und er war ein großer Verfechter sozialer Freiheiten.
Szasz: Er war ein großer Libertärer, wie auch viele Künstler, die zu seiner Zeit oder vielleicht etwas später lebten. Henrik Ibsen beispielsweise ist bekannt für seinen Ausspruch, dass die Mehrheit immer Unrecht hat. Wenn man will, kann man das bis zur die Magna Charta zurückverfolgen. Das ist ein fundamentales Konzept des angelsächsischen, anglo-amerikanischen Freiheitsbegriffes: Freiheit von Unterdrückung, nicht Freiheit, Wohltaten vom Staat zu erhalten. Das gab es schon lange vor den Libertären. Es handelt sich um ein sehr einfaches Konzept, dass Macht die Dinge steuern muss. Genau genommen ist das eine Ableitung von der Gottesidee. Das berühmte protestantische Sprichwort sagt: »Gott hilft denen, die sich selbst helfen.« Das gilt für alle Menschen, ausgenommen vielleicht einige aussichtslose Fälle.
Nur zu Urzeiten beteten Menschen für Regen oder eine bessere Ernte oder dies oder jenes. Bis sie die Landwirtschaft schufen und damit lernten, sich selbst zu helfen. Ich sehe eine große Gefahr in der Pharmakratie, denn sie ist ein System, das die Selbsthilfe untergräbt. Das ist wirklich eine Orwell'sche Ansicht, dass mehr und mehr Menschen vom Staat abhängig sein sollten und dadurch treue Diener eines Stalin oder Hitler, eines Roosevelt, Obama – von wem auch immer.
Mitchell: Nun, in den letzten 20 Jahren sahen viele Menschen in Ihnen einen Hauptverantwortlichen dafür. Wir haben in dieser Zeit eine massive Deinstitutionalisierung der Psychiatrie und Auflösung des Systems psychiatrischer Anstalten erlebt. Die Menschen sind heute viel mehr in die Gesellschaft eingebunden, als das früher der Fall war – mit teilweise problematischen Konsequenzen.
Szasz: Das ist ebenfalls richtig. Meine Ansichten, darauf haben Sie zu Recht hingewiesen, können von Rechten wie von Linken, von Libertären wie von Antilibertären übernommen und benutzt oder missbraucht werden. Die sogenannte Deinstitutionalisierung ist weit komplizierter als es in der Presse erscheint. Denn es ist nicht einfach so, dass man die Leute, die in den Psychiatrien untergebracht waren, frei- und in Ruhe gelassen oder den ärmsten von ihnen vielleicht Geld gegeben hätte, sondern sie wurden an die Hand genommen und in andere, »Betreutes Wohnen« (group home) genannte, Institutionen gebracht und dort zur Einnahme von Drogen gegen ihren Willen gezwungen. Das ist eine riesige Industrie. Die Sozialarbeiter und Psychologen gehen zu diesen Orten und überprüfen, ob die Leute ihre Medikamente nehmen. Und wenn sie sie nicht genommen haben, dann werden sie zur Einnahme gezwungen. Nun, das ist überhaupt nicht das, wovon ich gesprochen hatte.
Mitchell: Allerdings hat sich das Leben vieler Menschen durch die Vielzahl psychotroper Medikamente verbessert.
Szasz: Das ist richtig. Ich habe nichts gegen sie, solange Menschen nicht dazu gezwungen werden, sie zu nehmen. Sehen Sie, das ist die Stelle, wo mein Standpunkt kontrovers wird, weil ich auch glaube, dass es Menschen möglich sein soll, Opium, Kokain oder Marihuana zu nehmen oder Zigaretten zu rauchen, wenn sie das wollen. Menschen sollte es gestattet sein, mit sich selbst zu tun, was sie gerne möchten, wenn sie damit nicht dem Leben, der Freiheit oder dem Besitz anderer Menschen Schaden zufügen. Natürlich wird dieses ganze pharmakratische System durch die Tatsache zusammengehalten, dass ich dafür zahlen muss, wenn Sie rauchen und deshalb Lungenkrebs bekommen. Mit dieser Regelung, mit dieser Einstellung, schaffen wir die Voraussetzung für ein im Kern totalitäres System, in dem sich jeder um die Angelegenheiten anderer Leute kümmert, nur nicht um seine eigenen.
Mitchell: Thomas Szasz, lassen Sie uns zu Ihrer eigenen therapeutischen Praxis kommen. Sie haben psychische Erkrankungen in gewissem Sinne als »Lebensprobleme« bezeichnet. Mich würde interessieren, wie Sie dann therapeutisch mit Ihren Klienten, falls Sie sie so nennen, arbeiten.
Szasz: Nun, die Art, wie ich mit ihnen arbeite, ist im Grunde genommen die gleiche Art, wie wir seit einer Stunde miteinander reden. Jemand ruft mich an und sagt, er habe ein Problem, und ich rede mit ihm, bevor wir einen Termin vereinbaren. Was ist Ihr Problem?, würde ich fragen, und sie geben mir zur Antwort, was immer es ist: sie wollen heiraten, sie wollen sich scheiden lassen, die normalen Probleme des Lebens halt. Ich sage dann, in Ordnung, lassen Sie uns einen Termin vereinbaren. Ich würde dann die Person fragen, wie ich ihr helfen kann, und wir würden darüber diskutieren. Das wird gewöhnlich »Beratung« genannt. Ich rede von dem, was Menschen seit Tausenden Jahren tun, wenn sie zu einem Geistlichen oder einem Rabbiner gehen: über ihr Leben sprechen.
Mitchell: Aber warum wollen Menschen gerade mit Ihnen sprechen?
Szasz: Nun, ich war der Erste, der ihnen deutlich machte, dass es sich dabei nicht um eine professionelle Beziehung in dem Sinne handelt, dass ich etwas weiß, was andere nicht wissen. Ich rede mit ihnen nicht in meiner Eigenschaft als Arzt oder Psychiater. Und und ich rede mit ihnen nicht wie mit einem Patienten. Eines meiner Bücher trägt den Titel »Der Mythos der Psychotherapie«. Auch so etwas gibt es nicht.
Mitchell: Was tun Sie in Ihrem Beratungszimmer, wenn man es nicht Psychotherapie nennt.
Szasz: Das, was wir gerade tun. Es ist eines der wichtigsten Dinge im Leben: ernsthaft einem anderen Menschen zuhören und ernsthaft zu jemandem sprechen.
Das ist von größter Bedeutung. Wenn man so etwas nicht hat, dann wird man verrückt. Dieser Entzug von Reizen ist wie, wenn man sich allein auf einer Rettungsinsel befindet. Man fängt dann an, mit sich selbst zu reden. (Und dann kommen die Psychiater an und nennen es »Halluzination«.) Das beweist für mich, dass die wichtigste Sache ist, dass jemand mit einem redet. Warum gehen Menschen in die Kirche? Um mit Gott zu sprechen, weil sie niemand anders haben, mit dem sie sprechen können und niemand ihnen zuhören will. Diese sehr einfachen Dinge gibt es in der modernen Welt immer seltener.
Mitchell: Wenn jemand aber mitten in einer psychotischen Episode ist, kann Reden da helfen?
Szasz: Ich kann nur eine sehr unbefriedigende Antwort darauf geben. Wenn jemand inmitten einer sogenannten psychotischen Episode ist, dann ruft er oder sie – per definitionem – keinen Psychiater, um einen Termin auszumachen. Um es noch einmal zu wiederholen: bei diesen typischen psychiatrischen Herausforderungen handelt es sich um nichts anderes, als um Problemlösungen, die diese Leute für sich selbst gefunden haben: Psychose bedeutet, dass eine Person »nicht im Kontakt mit der Realität« steht. Was heißen soll, dass sie in ihrer eigenen Realität lebt und sich nicht um sich selbst kümmert. Das ist korrekt, sie ist in diese Realität geflüchtet und sorgt nicht für sich.
Mitchell: Wie würden Sie Ihre Rolle als Psychiater sehen? Als jemand, der in diese Realität eindringt?
Szasz: Ich habe nie versucht, diese Rolle zu spielen. Einige Leute haben es in der Tat versucht, mit mehr oder weniger Erfolg.
Sie haben da eine sehr wichtige Frage angesprochen, denn jene Person hat eine Lösung für ihr Problem gefunden, indem sie – durch nonverbale Kommunikation oder durch die Art, wie sie lebt – der Gesellschaft sagt: kümmert euch um mich! Dieser typische Patient leistet keinen Widerstand. Die Polizei und der Arzt können kommen und ihn in ein Gebäude bringen, man kann ihm dort sagen, dass er X tun solle, man kann ihm zu essen geben und wenn er nicht essen will, dann kann er schlafen. Er kann dann wie ein Neugeborenes behandelt werden. Das ist tatsächlich versucht worden. Das ist ungefähr so, wie die Elektroschockbehandlung entdeckt wurde. Ich weiß nicht, ob Sie gelesen haben, was ich in einem meiner Bücher dazu geschrieben habe. Die Geschichte dieser Entdeckung beginnt damit, dass der Elektroschock an Schweinen in Schlachthäusern in Rom ausprobiert wurde. Zu dieser Zeit griff die Polizei einen Mann auf, der ziellos auf dem Bahnhof herumstrich. Er war aus einer anderen Stadt und sie wussten nicht, was sie mit ihm machen sollten. Sie brachten ihn in eine Psychiatrie, natürlich, und dort geriet er in die Fänge eines Mannes namens Cerletti, eines italienischen Psychiaters, der sich zu dieser Zeit mit der Anwendung von Elektroschocks befasste und der sich sagte: Prima, da haben wir einen perfekten Patienten, einen Schizophrenen. Ich werde an ihm Elektroschocks ausprobieren. Sie verabreichten ihm einen Elektroschock, der Patient setzte sich auf und sagte in perfektem Italienisch: »Doktor, nie wieder!«. Daraufhin wurde er immer wieder geschockt. Diese Menschen sind also nicht tot. Sie wissen, was sie nicht möchten. Sie wissen, ob sie verletzt werden oder ob ihnen geholfen wird. Das Leben war für sie zu schwierig, sie sind irgendwie aus dem Leben herausgerutscht, ohne sich selbst umzubringen.
Mitchell: Sie verweisen eindringlich auf die Handlungsfähigkeit von Menschen mit psychischen Erkrankungen bzw. von Menschen, die als psychisch krank diagnostiziert wurden.
Szasz: Wir sprechen über Handlungsfähigkeit. Diese Menschen sind nicht tot. Sie sind keine Kinder, auch wenn sie möglicherweise wie Kinder handeln. Sie verhalten sich möglicherweise hilflos, aber sie wissen ganz genau, was sie nicht wollen. Und, nebenbei gesagt, viele Leute, die in diesem Zustand als psychotisch bezeichnet werden, bringen sich, sobald sie sich etwas erholt haben, als nächstes um. Das ist Teil der klassischen psychiatrischen Literatur und gilt insbesondere für die depressiven Patienten, die sich zurückziehen. Wenn sie aufhören, sich zurückzuziehen, dann bringen sie sich um. Das passiert immer wieder. Es gibt eine Menge solcher Patienten in der Literatur: Ernest Hemingway wurde gegen seinen Willen eingewiesen und bekam Elektroschocks. Sobald er wieder frei war, sobald er – sarkastisch gesagt – von seiner Depression geheilt war, da brachte er sich um.
Mitchell: Was sagt Ihnen das?
Szasz: Dass das Leben kein Sonntagsausflug ist. Es ist gar nicht so einfach, 90 Jahre oder egal wie lange zu leben und nicht im Gefängnis, in der Psychiatrie oder an einem anderen schrecklichen Ort zu landen. Nicht jeder vermag es, ein Leben erfolgreich zu führen, so wie nicht jeder Tennis spielen, Ski fahren oder Musik machen kann. Richtig zu leben, ist eine Aufgabe, zudem eine sehr schwierige.
Mitchell: Wenn Sie das sagen, dann denken manche Menschen allerdings, dass Sie ihnen die Schuld für ihr Leiden geben. Ich denke, in den letzten 20 Jahren hat man versucht, Menschen zu ermutigen, aus ihrer Isolation herauszutreten, sich Hilfe zu suchen und ihr Leiden als etwas zu sehen, dem wirklich abgeholfen oder das behandelt werden kann.
Szasz: Ich bin sehr dafür. Natasha, schauen Sie sich die Begriffe an, die Sie benutzen: »Hilfe suchen« ist gut, »Eindringen« oder »Hilfe aufdrängen« ist nicht so gut.
Mitchell: Nun nehmen Sie das Wort »Behandlung« ins Visier …
Szasz: Und wie! Man behandelt Leder, man behandelt Dinge. Man behandelt Menschen nicht so, als wären sie Objekte. Das ist einer der Unterschiede zwischen Medizin und Psychiatrie. In der Medizin will man als Objekt behandelt werden. Wenn ich zu einem Kardiologen, einem Orthopäden oder zu einem anderen Arzt gehe, dann möchte ich, dass er meine Knochen oder mein Herz repariert. Ich will mit ihm nicht über mein Leben sprechen. Ich möchte nicht, dass er in meine Seele eindringt – sehen Sie, das ist ein anderer Begriff, den wir nicht benutzt haben. Der Psychiater ist der »Heiler der Seelen«, wie er in der Religion genannt wurde – das ist ein korrekter Begriff. Die Seele ist eine weitere Metapher, die wir mit dem Wort »mind« ersetzt haben. Bevor es »mind« gab, gab es die Seele. Und in der deutschen Sprache gibt es immer noch den Begriff der »Seelenkrankheit« oder »seelischen Störung« für »Geisteskrankheit«.
Mitchell: Thomas Szasz, eine letzte Frage. Was denken Sie über die Zeit seit der Veröffentlichung der ersten Ausgabe von »The Myth of Mental Illness« im Jahre 1961? Sie erhielten im Laufe der Jahre eine Menge konstruktiver Kritik. Zuletzt in dem Buch »Szasz Under Fire«, einer Sammlung von kritischen Essays mit jeweils einer Antwort von Ihnen. Dennoch scheinen Ihre Ansichten ziemlich festzustehen. Haben sich Ihre Auffassungen, ihr Bewusstsein über die Jahre an irgendeiner Stelle grundlegend geändert?
Szasz: Die einfache Antwort ist: Nein. Natürlich haben sich meine Ansichten zu vielen Dingen des Lebens gewandelt. Meine Ansichten zum Unterschied zwischen einem gebrochenen Knochen, einem gebrochenen Herzen und einem Herzinfarkt haben sich dagegen nicht geändert. Das sind unterschiedliche Kategorien von Phänomenen. Ich habe meine Ansichten dazu nicht geändert, weil ich denke, dass es da nichts gab, was meine Meinung hätte ändern können. Insofern, als die Psychiater des 21. Jahrhundertes – und da sprechen Sie einen sehr interessanten Punkt an – als ihre zentrale Behauptung formulieren, dass wir heute mit all diesen chemischen und elektrischen Untersuchungsverfahren und PET-Scans zeigen könnten, dass Geisteskrankheit eine Gehirnerkrankung ist.
Mitchell: Ja, es werden große Anstrengungen in der Genetik, den Neurowissenschaften, der Neuropsychiatrie unternommen, um die biologische Grundlage von Geisteskrankheiten zu beweisen.
Szasz: Lassen Sie mich das noch deutlicher sagen: Geisteskrankheit ist dieser Behauptung zufolge eine Hirnerkrankung. Angenommen, sie hätten das bewiesen, dann hätten sie damit lediglich bewiesen, dass es sich dabei um eine weitere Hirnerkrankung handelt. Sie können nicht beweisen, dass es eine Geisteskrankheit ist. Das ist ein Widerspruch in sich. Sehen Sie, ich bestreite nicht die Existenz von Hirnerkrankungen. Ich bestreite auch nicht die Existenz der Neurologie oder Neurochirurgie. Wenn Sie einen Hirntumor haben oder Epilepsie, wenn sie an Parkinson erkrankt sind, wenn sie Multiple Sklerose haben, dann leiden Sie an einer Erkrankung des Nervensystems, des Gehirns. Was hat das mit dem Glauben zu tun, dass Gott zu Ihnen spricht oder dass Sie zu Gott sprechen?
Mitchell: Sie könnten das dann als Krankheit des Verhaltens auffassen.
Szasz: Aber Verhalten ist Verhalten. Der Körper kann erkranken, ohne dass sich das im Verhalten äußert. Sie können einen symptomlosen Bluthochdruck haben oder Leukämie. Das zeigt sich nicht im Verhalten. Ihr Verhalten ist völlig normal. Wir springen hin und her zwischen Verhalten, zwischen Sprache und Krankheit als körperliches Phänomen.
Mitchell: Noch einmal zurück zur Frage, ob Sie Ihre Ansichten über irgendetwas geändert haben. Gibt es etwas, worüber Sie heute anders denken?
Szasz: Nun, ich habe meine Ansichten über all das geändert, wo sich die Welt selbst geändert hat, selbstverständlich. Die Welt war ein sehr anderer Ort, als ich jung war. Amerika war ein völlig anderes Land, als ich 1938 hierher kam. Das ist jetzt 71 Jahre her.
Mitchell: Ich entnehme dem, was Sie sagen, dass Sie »The Myth of Mental Illness« heute als mindestens genauso bedeutsam ansehen wie zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung 1961, wenn nicht sogar als noch bedeutsamer.
Szasz: Ich denke, es ist viel bedeutsamer und gleichzeitig viel unbedeutender in dem Sinne, dass sich die Menschen heute für diese Ansichten nicht interessieren. Sehen Sie, damals gab es viele Rezensionen zu dem Buch, es war fast populär, man nahm es ernst. Das ist heute nicht mehr so. Heute wird es als bedeutungslos abgetan, denn wir haben ja schließlich PET-Scans und dies und jenes, und wir wissen, dass das alles Hirnerkrankungen sind.
Dieses Konzept der Geisteskrankheit ist so grundlegend für die moderne Gesellschaft geworden, dass Millionen Menschen von der Behinderung durch Geisteskrankheit leben. Es gibt richtige Lobby-Organisationen von und für psychisch Kranke, die zwar sagen, dass es keine Geisteskrankheiten gibt, aber Geld kassieren mit der Begründung, dass sie etwas für Menschen täten, die durch eine psychische Erkrankung behindert seien. Der Geisteskrankheitsbegriff ist so sehr ein Bestandteil des Rechts geworden, dass es schwierig werden würde, morgen das Recht ohne dieses Konzept anzuwenden. Das ist also keine einfache Sache: Geisteskrankheit könnte nicht mehr morgen früh einfach abgeschafft werden, wie im Vatikan die Religion nicht einfach abgeschafft werden könnte. Was wäre das dann, eine Ansammlung schöner Gebäude? »Geisteskrankheit« ist Teil dessen, was unsere Gesellschaft ausmacht.
Mitchell: Ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen 89. Geburstag in der nächsten Woche.
Szasz: Ich danke Ihnen. Sie sind weit besser informiert, als die meisten Menschen, mit denen ich sonst rede.
Übersetzung: Jan Groth
Das Interview wurde am 4. und 11. April 2009 im Rahmen der Sendung »All in the Mind« des australischen Radiosenders ABC Radio National ausgestrahlt. Die Übersetzung basiert auf einer leicht überarbeiteten Fassung des Transkripts der Sendung. Wir danken Natasha Mitchell und ABC Radio National, Australian Broadcasting Corporation, für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.