Der Kampf der Psychiatrie gegen strafrechtliche Verantwortlichkeit

Thomas S. Szasz

Wer sich den Mühen eigener umfassender Forschungen verweigert, bleibt ein Opfer schlecht informierter und berechnender Autoren und von Autoritäten, denen wir die alte und weit verbreitete Tradition einer Kultur der Verlogenheit zu verdanken haben.[1] Lord Acton (1834–1902), Rede vor der Eranus-Gesellschaft, Cambridge (1897), zitiert in McElrath, Lord Acton

I

Das Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit (insanity plea)[2], also die Behauptung eines (meist des Mordes) Angeklagten, er sei für seine Tat strafrechtlich nicht verantwortlich, weil er zum Zeitpunkt des Verbrechens unzurechnungsfähig gewesen sei, ist die älteste und offensichtlichste Form der Medizinalisierung des Rechts.[3] Als formale medizinisch-rechtliche Verfahren sind die Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit (insanity defense) im Strafprozess und die zivilrechtliche Anordnung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen (civil commitment)[4] symmetrische Taktiken: im einen Fall wird die Idee einer Geisteskrankheit[5] dazu benutzt, eine schuldige Person von der Verantwortung für ihr Verbrechen freizusprechen; im anderen Fall wird die Idee einer Geisteskrankheit dazu benutzt, eine unschuldige Person anzuklagen, »auf gefährliche Weise krank« zu sein und sie in einer psychiatrischen Klinik einzusperren. Die Psychiatrie beruht auf diesen beiden Verfahren und würde ohne sie verschwinden.[6]

Die Medizinalisierung des Rechts habe ich bereits in früheren Veröffentlichungen kritisch untersucht.[7] Dieser Essay handelt von einem Mordprozess, in dem sich die Angeklagte zu ihrer Verteidigung auf Unzurechnungsfähigkeit berief. Das Beispiel entspricht nicht dem Üblichen. Wenn ein Straftäter oder dessen Anwalt sich zur Verteidigung auf Unzurechnungsfähigkeit beruft, dann unterlässt es die Staatsanwaltschaft häufig, diese psychiatrische Behauptung des Angeklagten in Frage zu stellen. Stattdessen fordert sie die Jury praktisch dazu auf, ein Urteil »nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit« auszusprechen und erklärt sich auf diese Weise damit einverstanden, dass man sich des Angeklagten dadurch entledigt, indem er für unbegrenzte Zeit in einer Irrenanstalt weggeschlossen wird. Oder aber die Anklage bestreitet die Einlassungen der Verteidigung und behauptet, dass der Angeklagte zwar psychisch krank sei, aber nicht krank genug, dass eine Befreiung von den Sanktionen des Strafrechts gerechtfertigt wäre. Im vorliegenden Fall verfolgte die Staatsanwaltschaft dagegen einen mutigeren Kurs.

II

Im November 1980 stand Darlin June Cromer, eine 34-jährige Weiße, in Oakland, Kalifornien, vor Gericht. Ihr wurde vorgeworfen, Reginald Williams, einen fünfjährigen afro-amerikanischen Jungen, entführt und getötet zu haben. Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord mit strafverschärfenden Umständen. Als strafverschärfend wurden die rassistischen Motive für den Mord gewertet. Cromer plädierte auf »nicht schuldig wegen Unzurechnungsfähigkeit«.[8]

Die Tatsachen des Falles waren unstrittig: Am 5. Februar 1980 wurde Reginald Williams aus einem Supermarkt entführt. Der Verdacht richtete sich recht bald gegen Cromer, die bekannt dafür war, schwarze Kinder in ihr Auto zu locken und über die »Tötung von Niggern« zu schwadronieren. Als die Polizei Cromer zur Rede stellte, gestand sie voller Eifer, Reginald in ihr Auto gelockt, erwürgt und dann in einem flachen Grab auf dem Gelände einer Kläranlage in der Nähe ihrer Wohnung verscharrt zu haben.

Wer war Darlin June Cromer? Sie war eine 34-jährige weiße Frau, die ihr ganzes erwachsenes Leben als offiziell anerkannte Geisteskranke (card-carrying mental patient) verbracht hatte. Jahrzehnte zuvor als »schizophren« diagnostiziert, ging sie in »Therapieeinrichtungen« ein und aus. 1980 erhielt sie eine Bewährungsstrafe für den Überfall auf eine Chinesin, den sie 1977 in San Francisco verübt hatte.

In ihren Zeugenaussagen schilderten drei schwarze Jungen auf anschauliche Weise, wie Cromer am Tage des Williams-Mordes und auch am Tag davor versuchte hatte, sie in ihr Auto zu locken. Zwei der Jungen weigerten sich. Einer, Steven Willis, akzeptierte Cromers Angebot, ihn in die Schule zu fahren, konnte sich aber retten. »Nachdem das Auto an der Schule vorbeigefahren war und an einer Ampel halten musste, sprang Willis aus dem Auto, rannte mehrere Blöcke bis zu seiner Schule und erzählte einem Lehrer, was passiert war.«[9]

Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft war Cromers Motiv – wie sie selbst zugegeben hatte – Rassenhass. Der Pflichtverteidiger Dean Beaupre widersprach. Er erklärte: »Es steht außer Zweifel, dass die Angeklagte diesen kleinen Jungen am 5. Februar 1980 tötete. … In diesem Fall geht es jedoch nicht um Rassismus, sondern es geht um Geisteskrankheit. Die Angeklagte ist geisteskrank.«[10] Das war ganz offensichtlich eine Lüge. Wenn Cromer zum Zeitpunkt der Aussage von Beaupre rechtlich gesehen geisteskrank gewesen wäre, dann hätte sie nicht vor Gericht gestanden: der Richter hätte sie für verhandlungsunfähig erklären müssen. Was Beaupre sagen wollte (und was später vier der angesehensten forensischen Psychiater Kaliforniens in ihren beeideten Aussagen behaupten würden), war, dass Cromer im Februar 1980 geisteskrank gewesen sei, also etwa 11 Monate vor dem Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung. Damals war Cromer den Psychiatern wie auch Beaupre jedoch völlig unbekannt. Sie konnten also unmöglich irgendetwas über den Geisteszustand der Angeklagten zum damaligen Zeitpunkt wissen. Dieser Streitpunkt stand im Zentrum meiner Aussage vor Gericht.

Welchen Beweis hatte die Anklage dafür, dass Cromers Tat zielgerichtet und durch Gründe gerechtfertigt war – und nicht etwa eine »sinnlose Tat«, wie Morde in Zeitungen üblicherweise dann genannt werden, wenn der Täter von ihnen als »psychisch Kranker« bezeichnet wird? Dies waren einige der Beweise:

Am dritten Verhandlungstag gab eine Polizistin eine ungezwungene Unterhaltung mit Cromer in ihrer Zelle wieder, die sie mit ihr nur wenige Stunden nach ihrer Festnahme wegen der Ermordung Reginald Williams' geführt hatte … Deputy Dorothy Soto sagte, Cromer habe »über Nigger reden wollen« und obwohl Soto sie nicht dazu ermuntert hätte, habe sie einen lange und ausschweifende Hetzrede gegen Schwarze begonnen. Soto, die das Gespräch später niederschrieb, las ihre Erinnerungen gestern der Jury vor. Sie sagte, Cromer habe auf einem Tisch gesessen und habe sich klar und verständlich geäußert. »Es ist die Pflicht einer jeden weißen Frau, ein Niggerkind zu töten«, gab Soto Cromers Worte wieder. »Ich habe meins schon umgelegt.« Sie sagte, dass Cromer sie gedrängt habe, selbst einen Schwarzen zu töten.[11]

Mr. Beaupre verzichtete darauf, seine Klientin in den Zeugenstand zu holen, um diesen Vorwürfen entgegenzutreten. Stattdessen erklärte er, dass »seine Klientin deshalb getötet habe, weil sich eine schizophrene Paranoia ihrer bemächtigt hätte, nicht aber Hass auf Schwarze.«[12] Ein Gefängnispsychologe sagte dagegen aus, dass Cromer ihm mitgeteilt hätte, »die Tötung eines schwarzen Kindes würde einen ›Schneeballeffekt‹ als Reaktion auf die ›Machtübernahme der Schwarzen‹ hervorrufen.«[13]

Am 23. Februar 1981 brachte Newsweek einen Sonderbeitrag zu der Verhandlung. Die Reporter charakterisierten Cromer als »verwirrte (twisted) Frau« und gaben an, der Anwalt der Angeklagten, Dean Beaupre, habe behauptet, dass seine Klientin eine »akute Schizophrene« sei, die wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen werden sollte:

»Dieser Junge starb [erklärte er der Jury], weil Ms. Cromer so psychotisch war, wie sie nur sein konnte.« … Donald Lunde, Professor an der Stanford University, beschrieb ihre Überzeugung, dass Schwarze wie Tiere seien und gegessen werden sollten. »Wenn sie nicht verrückt ist«, schloss er, »wer soll es dann sein?« … Staatsanwalt Albert Meloling … gab sich redliche Mühe, den Wert der Aussagen der von ihm als »mystische Ritter der Psychiatrie« bezeichneten Gutachter herunterzuspielen. Er brachte seinen eigenen Gladiator mit, den unorthodoxen und rebellischen Psychiater und Berufsentlarver Thomas Szasz, der die Ansicht vertrat, die Angeklagte »leide an den Konsequenzen ihres von Schlechtigkeit, Dummheit und Boshaftigkeit gekennzeichneten Lebens, das sie seit ihrer Jugend gelebt habe.«[14]

Am 17. Januar 1981 sprach die Jury Darlin June Cromer schuldig des vorsätzlichen Mordes, weil »sie wusste, was sie tat«. Sie wurde zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung verurteilt.

Verschiedene Beobachter zogen unterschiedliche Schlüsse aus diesem Ergebnis. Dean Beaupre beharrte darauf, dass Cromer so krank gewesen sei, »dass sie geglaubt habe, sie begehe ›eine positive Handlung‹, als sie den Jungen tötete.« Albert Meloling wies darauf hin, dass die Jury ihre Entscheidung schon nach relativ kurzer Zeit getroffen hatte und sagte: »Ganz offensichtlich sind diese Mitglieder einer Jury überzeugt davon, dass Psychiater nicht in den Gerichtssaal gehören.«[15] Newsweek räumte ein, dass das Urteil »zumindest den einen Nutzen hat: es wird Darlin June Cromer für den Rest ihres Lebens aus dem Verkehr ziehen.«[16]

III

Wie kam es zu meiner Beteiligung am Fall Cromer? Ich bin kein forensischer Psychiater. Ich bin ein Kritiker der Psychiatrie und vor allem der forensischen Psychiatrie. Seit Mitte der 1950er Jahre schreibe ich kritische Essays und Bücher über die Rolle der Psychiatrie im Rechtssystem. 1963 erschien Law, Liberty, and Psychiatry[17]. Es wurde häufig und wohlwollend besprochen und an vielen juristischen Fakultäten zur Pflichtlektüre. 1965 erschien Psychiatric Justice. Ich veröffentlichte viel in juristischen Fachzeitschriften. So erreichte ich in juristischen Kreisen einen gewissen Bekanntheitsgrad als Psychiater mit einer prinzipiellen Oppositionshaltung gegen die richterliche Anordnung und die Anwendung psychiatrischen Zwangs wie auch gegen die Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit.

In den 1960ern und 1970ern sagte ich einige Male als Gutachter im Auftrag von Menschen, die in einer psychiatrischen Klinik eingesperrt waren und ihre Freiheit wiedererlangen wollten, vor Gericht aus. Im selben Zeitraum arbeitete ich auch einige Male als Sachverständiger für Staatsanwälte, die gegen eine Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit vorgehen wollten. Wie ich bereits erwähnte, gibt es in den meisten solcher Fälle – wie beispielsweise im Fall von John W. Hinckley, Jr. – eine Zusammenarbeit von Anklage und Verteidigung mit dem Ergebnis, dass die Anwälte beider Seiten bereitwillig einer Einsperrung des Angeklagten in einer Irrenanstalt zustimmen. Der Bezirksstaatsanwalt von Oakland, Albert Meloling, gehörte nicht zu dieser Sorte Ankläger. Es war eine hochkarätig besetzte Verhandlung. Meloling war aufgebracht über diese bewusste, sorgfältig geplante und rassistisch motivierte Tötung eines schwarzen Jungen, besonders deshalb, weil das Verbrechen in der mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Stadt Oakland, Kalifornien, verübt worden war. Er kannte meine Ansichten und nahm Kontakt zu mir auf. Ich erklärte mich zu einer Aussage vor Gericht bereit, allerdings nur unter einer Bedingung: Ich würde nicht an der Scharade einer »Untersuchung des Patienten« teilnehmen. An dieser Stelle muss ich kurz erklären, weshalb diese Nicht-Teilnahme – die meine Kritiker stets als Ausweis medizinischer Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit oder als noch Schlimmeres interpretiert haben – für mich von entscheidender Bedeutung war, und zwar aus moralischen wie auch aus fachlichen Gründen.

Meloling wusste von mir auch durch meine Teilnahme hinter den Kulissen bei der strafrechtlichen Verfolgung einer der spektakulärsten Massenmorde unserer Zeit, dem Verfahren gegen Leslie van Houten im Jahre 1969, einem der »Manson Girls«. Van Houtens Anwalt fuhr mehrere Psychiater auf, um zu bezeugen, dass sie zweifellos verrückt war: sie glaubte, Manson sei Gott, ritzte sich ein großes »X« in die Stirn und beging Grausamkeiten, die »kein normaler Mensch begehen könnte«. Der Staatsanwalt bat mich um Unterstützung. Ich flog nach Los Angeles, besprach den Fall mit ihm und sagte ihm, dass er überhaupt keinen Psychiater an seiner Seite benötigen würde. Es bestünde keine Notwendigkeit, mich in den Zeugenstand zu rufen. Stattdessen solle er sich darauf konzentrieren, die Glaubwürdigkeit der für die Verteidigung arbeitenden Psychiater zu untergraben, sie als Scharlatane zu entlarven, die immer bereit sind auszusagen, dass ein Angeklagter nicht verantwortlich sei für seine Taten und »einer Behandlung bedürfe«. Und er solle an den gesunden Menschenverstand der Jury appellieren, dass unser moralisches Bewusstsein es einfach verlangen würde, dass ein solch kaltblütiges und grausames Verbrechen bestraft und nicht durch Psychiater »entschuldigt« werden sollte. Dies geschah dann auch. Leslie van Houten sitzt heute immer noch im Gefängnis.

Das ist der Kontext, in dem meine Zeugenaussage im Fall Cromer gesehen werden muss.

IV

Wenn ein des Mordes Angeklagter sich auf Unzurechnungsfähigkeit beruft und wenn die Tatsache, dass er den Mord begangen hat, unbestritten ist, dann erwartet man von dem psychiatrischen Sachverständigen nicht eine Aussage über den Geisteszustand des Angeklagten zum Zeitpunkt seiner Untersuchung des »Patienten«, sondern zum Zeitpunkt der Tatbegehung (in der Regel mehrere Monate vorher). Im Fall Cromer lagen zwischen dem Verbrechen und der Untersuchung des Angeklagten durch die Psychiater der Verteidigung etwa zehn Monate.

Für Psychiater ist dies medizinisch fundierte und wissenschaftliche Praxis, und Gerichte wie auch die Gesellschaft akzeptieren sie als ob es sich dabei um etwas Vergleichbares zu Gutachten anderer medizinischer Experten, wie zum Beispiel Gerichtsmediziner, handeln würde. Ich betrachte diese Praxis als Inbegriff von Junk Science[18] und lehne es ab, mich daran zu beteiligen. Zunächst einmal gibt es keinen objektiven Test für die Feststellung einer Geisteskrankheit, so wie z.B. für die Diagnose eines Melanoms oder einer Lungenentzündung. Was Psychiater anmaßend als »Untersuchung« bezeichnen, ist ein Gespräch mit dem Probanden und die Beobachtung seines Verhaltens. Die Schlussfolgerungen des Psychiaters sind seine Meinung über den Geisteszustand des Probanden zum Zeitpunkt der Untersuchung. Die Behauptung, dass ein Psychiater in der Lage sei, den Geisteszustand eines Angeklagten am 15. Januar zu bestimmen, obwohl er ihn erst am 15. November zum ersten Mal gesehen und untersucht hat, ist ganz offensichtlich absurd. Unser rechtlich-psychiatrisches System allerdings akzeptiert nicht nur, sondern besteht sogar darauf, dass diese Erfindung eine wissenschaftliche Wahrheit sei. Wenige Menschen – und nur wenige oder überhaupt keine Psychiater – stellen diese Scharade in Frage. Deshalb ist die beste Taktik für einen Ankläger, der wirklich entschlossen ist, die Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit ins Leere laufen zu lassen, die Psychiater der Verteidigung einfach als Scharlatane zu entlarven, Söldner (hired guns) hinter der Maske eines medizinischen Experten. Meloling hielt weder etwas von der Unzurechnungsfähigkeitsverteidigung, noch von Psychiatern, die immer bereit sind, Mörder als »verrückt« zu bezeichnen, und war deshalb einverstanden mit meinem Vorschlag, einen solchen Kurs zu verfolgen.

Wie sich herausstellte, war mein Beharren darauf, den Angeklagten nicht zu untersuchen und meine Ablehnung, eine weitere retrospektive, allerdings den von der Verteidigung vorgebrachten Expertisen widersprechende, Diagnose anzubieten, erwies sich als entscheidend dabei, die Mitglieder der Jury davon zu überzeugen, dass sie von den Psychiatern der Verteidigung getäuscht werden sollten. Am Tag nach dem Ende des Cromer-Prozesses berichtete der San Francisco Chronicle:

Der letzte Zeuge der Staatsanwaltschaft, dessen gestrige Vorladung mit 3000 Dollar zu Buche schlug, war ein angesehener New Yorker Psychiater, der mit seiner Anfechtung der Gutachten der vier Sachverständigen der Verteidigung für Hochspannung bei den Anwälten der Beklagten sorgte. … Dr. Szasz, Professor an der State University of New York, ist Autor von 17 Büchern, eine anerkannte Autorität in Fragen zu Recht und Psychiatrie. Grundlage seines Gutachtens war die Durchsicht der umfangreichen Krankenakte Cromers. Er äußerte außerdem, dass eine Untersuchung der Angeklagten ihm nicht weiterhelfen würde. Als er von Meloling nach dem Grund dafür gefragt wurde, antwortete Szasz: »Weil ich nur feststellen könnte, wie ihr Geisteszustand jetzt ist, nicht am Tag des Mordes. Das ist das Wesen der Psychiatrie.« Die zahlreichen Psychiater der Verteidigung … stellten die rückblickende Diagnose, dass Cromer an einer psychotischen Wahnvorstellung gelitten hätte.[19]

V

Aus Gründen, die ich im Anschluss aufzeigen werde, erschien 1982 im American Journal of Forensic Psychiatry die wörtliche Niederschrift meiner vollständigen Aussage im Cromer-Prozess. Sie beginnt mit der sogenannten Direct Examination[20]. Ich befinde mich im Zeugenstand und werde vom Ankläger, Albert Meloling, befragt:

F. Haben Sie in diesem Land bereits vor Gericht zum Problem der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen ausgesagt?

A: Ja, einige Male.

F. Haben Sie den Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County bei dem Fall unterstützt, der ein Mitglied der Manson Group betraf, genauer gesagt, bei dem Fall, der Leslie van Houten betraf?[21]

Wie jeder gute Anwalt stellte Meloling seinem Zeugen nur Fragen, deren Antwort er bereits kannte. Man beachte, dass er das Wort »unterstützen« (assist) anstatt »aussagen« (testify) benutzte. Die Verteidigung erhob Einspruch, die Frage sei »irrelevant«. Der Richter gab dem Einspruch statt und ich beantwortete die Frage nicht. Nach einer kurzen voir dire-Befragung[22] durch Dean Beaupre von der Verteidigung, fuhr Meloling mit der Befragung meiner Person fort. Nachdem ich Auskunft gegeben hatte, wie ich zu meinem Wissen über die Umstände des Verbrechens gekommen war, fragte er weiter:

F. Sie haben also die Angeklagte nicht untersucht, oder?

A. Nein, Sir.

F. Würde es Ihnen bei Ihrer Aussage eine Hilfe sein, sie jetzt zu untersuchen?

A. Nein, Sir.

F. Sie haben verstanden, dass es hier um ihren Geisteszustand am 5. Februar letzten Jahres geht?

A. So habe ich das verstanden.

F. Warum würde Ihnen eine Untersuchung in diesem Moment nicht dabei helfen, ihren Geisteszustand am 5. Februar letzten Jahres zu bestimmen?

A. Weil ich durch eine Untersuchung zum jetzigen Zeitpunkt auch nur ihren jetzigen Geisteszustand feststellen könnte.

F. Welchen Grund gibt es dafür?

A. Das ist das Wesen der psychiatrischen Untersuchung. Ich weiß nichts über ihren Geisteszustand vor sechs Monaten. Ich würde auch nicht wissen, welches ihr Geisteszustand in sechs Monaten sein wird.[23]

Man beachte, dass diese Auskünfte, die der Ankläger hier seinen Sachverständigen geben ließ, von entscheidender Bedeutung waren, um der Jury zu zeigen, dass die Gutachter der Verteidiger überhaupt kein Wissen über Cromers Geisteszustand zum Tatzeitpunkt haben konnten. Mein Verbrechen gegen das psychiatrische Dogma – und zwar meine Weigerung einer Untersuchung des Angeklagten, auf den sich Psychiater immer als »Patienten« beziehen – wurde von der Anklage in das Verfahren eingeführt und hervorgehoben als Bestandteil ihrer Taktik, um eine Verurteilung sicherzustellen. Es war kein »Geständnis«, das der Staatsanwalt einem schuldigen Angeklagten entlockt oder der Klägeranwalt in einem Zivilrechtsverfahren einem Zeugen der Gegenseite.

Warum haben mich dann aber Psychiater und andere Unterstützer psychiatrischen Zwangs und psychiatrischer Entschuldigungen der »Unterlassung einer Untersuchung der Angeklagten« bezichtigt und meine Äußerungen vor Gericht zu einem angeblichen »Eingeständnis« eines Fehlverhaltens gemacht? Dafür gibt es drei mögliche Antworten: Eine ist, dass meine Ankläger so überzeugt vom Besitz der Wahrheit über Geisteskrankheiten sind, dass sie schlicht taub für das sind, was ich sage und schreibe. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Kritiker meine bewusste Ablehnung von Standardpraktiken der forensischen Psychiatrie schon für sich genommen als Beweis für einen psychiatrischen Kunstfehler halten. Die dritte Möglichkeit ist die, dass sie meine Botschaft durchaus hören und sie nur allzu gut verstehen, aber ganz nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung« statt sich mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen, mich lieber verleumden.

Nach einer Reihe anderer Fragen, fuhr Meloling fort:

F. Sie sagten, dass es für die Beantwortung der Frage nach der Verantwortlichkeit einer Person völlig irrelevant sei, ob diese Person an einer Schizophrenie leidet oder nicht?

A. Das ist richtig. … Schizophrene können verantwortlich sein und sind es auch. … Es ist heute übliche Praxis, sie nicht einzusperren. Sie haben damit alle Rechte und Freiheiten wie Sie und ich und deshalb auch alle Verantwortlichkeiten, die auch Sie und ich haben. Und das heißt: für ihr Handeln verantwortlich gemacht zu werden.[24]

Nach einer Reihe von Fragen, die sich mit Cromers Ansichten zu Schwarzen als Tieren und mit ihrem Wunsch, ihr Opfer zu verspeisen, befassten, fragte Meloling:

F. Sie sagten, dass es in der Alltagssprache durchaus üblich sei, für die gleichen Dinge verschiedene Namen zu verwenden?

A. Wir alle tun das die ganze Zeit. Früher oder später beziehen wir uns auf Dinge durch gewisse Redewendungen, manche sind sogenannte Metaphern, andere wieder werden als Bilder bezeichnet. Wenn man jemanden nicht leiden kann, dann sagt man »Du bist ein Hurensohn«. Wir meinen allerdings nicht im wörtlichen Sinne, dass der andere der Sohn einer Hure sei. Oder wir sagen zu jemandem: »Du mein Augapfel.«. Damit wollen wir nicht sagen, der andere sei ein Apfel.

(Gelächter)

A: (Fortsetzung) Wir sagen zu unserer Tochter, »Du siehst so süß aus, ich könnte Dich auffressen.« Das ist eine Redewendung. Die Tatsache, dass sie [Cromer] etwas in dieser Art gesagt haben mag, offenkundig hat sie die Person ja nicht verspeist, dadurch wird die Behauptung, dass sie vorgehabt habe, ihn zu essen, zu einer glatten Lüge. Wenn sie die Person tatsächlich hätte verspeisen wollen, dann hätte sie reichlich Zeit dazu gehabt.

(Gelächter)

(Fortsetzung) Und wenn Menschen Redewendungen benutzen, dann wird das zu einer Angelegenheit der Sprache, die eine Jury zu beurteilen hat, nicht Psychiater.[25]

Meloling wandte sich dann Cromers geäußerter Ansicht zu, Schwarze seien Tiere, und der diesbezüglichen Behauptung eines Psychiaters, dass »sie extrem wahnhaft gewesen sei und dass ihre Überzeugungen bezüglich gewisser Dinge über Schwarze und Chinesen bei weitem die Grenze zum gewöhnlichen Vorurteil überschritten hätten.«

F. … Was ist der Unterschied zwischen einem Vorurteil und einem Wahn? Gibt es einen Unterschied?

A. Ja. … Aber ganz offensichtlich ist das eine völlig subjektive und politisch und moralisch aufgeladene Frage, denn die Idee, dass Schwarze keine Menschen seien oder Juden keine Menschen seien oder dass Nichtchristen eigentlich keine Menschen seien … Schauen Sie sich die Geschichte an, sie ist voll davon, dass Menschen andere Menschen als Tiere ansehen und bereit sind, sie zu töten. …[26]

Schließlich stellte Meloling noch eine dem Ritual geschuldete Frage.

F. Haben Sie eine Meinung darüber, an was Ms. Cromer am 5. Februar dieses Jahres litt, wenn man überhaupt von einem Leiden sprechen kann?

A. Ja, die habe ich.

F. Wie lautet diese Meinung?

A. Diese Meinung lautet, dass sie an den Konsequenzen der Tatsache litt, ein Leben voll von Schlechtigkeit und Dummheit gelebt zu haben. Ein sehr übles Leben; dass sie aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, alles, was sie seit ihrer Jugendzeit gemacht hat, sehr schlecht gemacht hat. Sie war eine schlechte Schülerin. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie eine besonders gute Tochter oder Schwester war. Sie war eine schlechte Ehefrau. Sie war eine schlechte Mutter. Sie war eine schlechte Mitarbeiterin, soweit sie überhaupt beschäftigungsfähig war. Dann begann sie, illegale Drogen zu nehmen, dann steigerte sie sich zu illegalen Angriffen und schließlich beging sie diesen Mord. … Das Leben ist eine Aufgabe. Entweder du meisterst es oder es meistert dich. … Wenn man nicht weiß, wie man etwas aufbauen kann, dann kann man immer noch zerstören. Das sind die Leute, die unsere Gesellschaft zerstören, unsere Gesellschaft und andere Menschen.[27]

Dann wurde ich wieder von Beaupre befragt. Er versuchte, mich und meine Aussage zu diskreditieren, indem er behauptete, psychiatrische Diagnosen seien ebenso zuverlässig wie medizinische Diagnosen, und damit, dass ich nicht alle zu dem Fall gehörenden Akten gelesen hätte und mir für meine Arbeit 3000 Dollar plus Spesen gezahlt worden seien. Meloling ließ das so nicht im Raum stehen.

F. Dr. Szasz, ist eine psychiatrische Diagnose so präzise wie eine medizinische Diagnose?

A. Gewöhnlich nicht, nein.

F. Welchen Grund gibt es dafür?

A. Medizinische Diagnosen beziehen sich auf objektive und demonstrierbare Verletzungen oder Störungen des Körpers, gebrochene Knochen, erkrankte Lebern, Nieren usw. Psychiatrische Diagnosen beziehen sich auf Verhaltensweisen von Menschen, die in moralischen, kulturellen und rechtlichen Begriffen interpretiert werden müssen. Und deshalb kommen unterschiedliche Interpretatoren zu unterschiedlichen Urteilen. … Homosexualität war noch bis vor wenigen Jahren eine anerkannte Geisteskrankheit. Und jetzt ist es keine Geisteskrankheit mehr. … aber seit letztem Jahr ist Rauchen eine Krankheit.

F. Rauchen ist jetzt eine psychiatrisches Problem?

A. Nicht ein »Problem«, Sir, eine »Krankheit«.

F. Eine Krankheit?

A. Eine Krankheit. Seit Januar 1980. Glückspiel ebenfalls.

F. Wie bitte?

A. Glückspiel ist auch eine Krankheit.

F. Wie wird das behandelt? Nimmt man den Leuten einfach das Geld weg?

(Gelächter)

An diesem Punkt war der Richter so erheitert durch die Komik, die dem innewohnt, was Psychiater eine Krankheit nennen, dass er die Frage selbst beantwortete:

Richter: Man gewinnt.

(Gelächter)

Zeuge: Stimmt. Das würde ich auch empfehlen.

(Gelächter)

Mr. Meloling: Keine weiteren Fragen.[28]

Es war kein guter Tag für die Verteidigung. 1989 legte das Büro der Pflichtverteidiger (public defender’s office) Beschwerde gegen Cromers Verurteilung ein. »Der stellvertretende Pflichtverteidiger (deputy public defender) Colleen Rohann sagte, … Cromer hätte einen 20-jährige Geschichte einer psychischen Erkrankung hinter sich und gehörte in eine psychiatrische Anstalt, nicht in ein Gefängnis.«[29] Die Beschwerde führte als belastendes Material an, dass »Albert Meloling sich eines groben Fehlverhaltens schuldig gemacht hätte, als er die Psychiater der Verteidigung als ›Betrüger‹ bezeichnet und als ›soziales Krebsgeschwür, das entfernt werden müsse‹. … Cromer hätte eine fast zwei Jahrzehnte währende Geschichte psychischer Probleme hinter sich und vier Sachverständige der Verteidigung hätten ausgesagt, sie sei unzurechnungsfähig.«[30] Der Oberste Gerichtshof des Staates lehnte eine Aufhebung des Urteils ab.

VI

Wie nicht anders zu erwarten, war die psychiatrische Community sehr aufgebracht über meine Aussage vor Gericht. Donald Lunde war einer der bekanntesten und angesehensten forensischen Psychiater in Amerika. Mein Widerspruch gegen sein Gutachten war eine Unverfrorenheit. Cromer war schließlich eine amtlich beglaubigte Geisteskranke. Wer könnte daran zweifeln, dass sie verrückt war und in ein psychiatrisches Krankenhaus »gehörte« und nicht in ein Gefängnis.

Psychiater sind schlechte Verlierer. Nach dem Prozess stellten sie in ihren eigenen Zeitschriften und Diskussionszirkeln das Urteil der Jury in Frage und bezichtigten mich praktisch, einen psychiatrischen Kunstfehler begangen zu haben: Ich hätte die »Patientin« nicht untersucht, und was vielleicht noch schlimmer wog, ich hätte Humor in das Verfahren einfließen lassen.

Jeder Prozess – und gewiss jeder spektakuläre Mordprozess – ist Theater. Es ist nicht möglich, das Stück zu verstehen oder zu beurteilen, ohne es selbst gesehen oder zumindest als Text gelesen zu haben.

Offensichtlich betrachtete Lunde den Cromer-Prozess als ein Duell, das ich nur durch den Einsatz unfairer Mittel für mich entschieden hatte. In einem Brief an den Herausgeber des American Journal of Forensic Psychiatry machte er den Vorschlag, die Niederschrift meiner Zeugenaussage, ergänzt durch kritische Kommentaren von Fachleuten für forensische Psychiatrie, zu veröffentlichen. Mit dem Titel »The Psychiatrist in Court: People of the State of California v. Darlin June Cromer« erschien dieses Material 1982 im American Journal of Forensic Psychiatry.

Das Dokument erstreckt sich über einundvierzig Seiten. Ich werde versuchen, die Höhepunkte in der Reihenfolge zusammenzufassen, in der sie erscheinen. In seinem Brief an Ed Miller, den Herausgeber der Zeitschrift, schlägt Lunde vor, dass »ein Gutachter sich mit folgenden Tatsachen beschäftigen könnte: (1) Dr. Szasz gibt zu [sic], dass er die Angeklagte niemals untersucht hat, gibt aber dennoch ein Urteil über sie ab. (2) Dr. Szasz gibt zu [sic], dass er nicht alle ihre Krankenakten durchgesehen hat, dennoch gibt er ein Urteil ab. (3) Dr. Szasz sagt als psychiatrischer Sachverständiger, dass es keine Geisteskrankheiten gebe.«[31]

Man beachte, wie leicht Lunde die Sprache des KGB über die Lippen geht. Wenn man sagt, eine Person X gebe etwas zu, dann impliziert das, dass X unmoralisch ist, illegal, ein Affront gegen eine legitime Autorität. Eine Person gibt nicht zu, etwas Gutes zu tun. Wir sagen nicht, dass eine Person zugibt, dass sie die Wahrheit gesagt hat; wir sagen nur, dass sie zugibt, gelogen zu haben.

Ich habe bereits erklärt, weshalb ich die Untersuchung des Angeklagten in solchen Fällen und die beeidete Aussage über seinen Geisteszustand vor Monaten oder Jahren für wissenschaftlich verachtenswert und moralisch verwerflich halte. Bezüglich Lundes zweiten Vorwurfs, dass ich nicht alle ihre Akten gelesen hätte, müssen wir im Auge behalten, dass Cromer seit mehr als zwanzig Jahren eine psychiatrische Patientin war. Die Durchsicht all ihrer Akten – angenommen, sie wären alle verfügbar gewesen, was zweifelhaft ist – hätte wahrscheinlich Wochen gedauert. Lundes dritter Vorwurf ist vielleicht der aufschlussreichste: Ich sei ein Experte für Theologie und würde dennoch die Existenz Gottes abstreiten.

Das forensisch-psychiatrische Establishment beschloss, den Cromer-Fall neu zu schreiben, mit der Mörderin als der unschuldigen, kranken Patientin, und meiner Person als dem gefühllosen, unverantwortlichen und bösartigen Psychiater. Nach Durchsicht der Niederschrift meiner Zeugenaussage gab Selwyn M. Smith, MD, Professor für Psychiatrie und leitender Psychiater am Royal Ottawa Hospital folgende Stellungnahme ab:

Die Ansichten von Dr. Thomas Szasz sind allseits bekannt … Gegenansichten sind in der psychiatrischen Literatur gut dokumentiert.  … Die Arbeit von Dr. Szasz im Vorfeld seiner Aussage vor Gericht war meiner Meinung nach ausgesprochen oberflächlich und steht im Gegensatz zu akzeptablen Praxisstandards. … er trat vor das Gericht, um auszusagen und nutzte auf verschiedene Weise den Zeugenstand als Forum für die Präsentation seiner eigenwilligen Ansichten. … Diese Oberflächlichkeit wurde noch verstärkt durch seine eigene Aussage, dass er keinen Grund gesehen habe, die Angeklagte zu untersuchen. Natürlich sollte man, wenn man um eine Stellungnahme als Arzt oder Psychiater gebeten wird, bereit sein, den Angeklagten zu untersuchen … Dies gilt insbesondere, wenn man so großzügig bezahlt wird, wie es hier der Fall war. Ich fand Dr. Szasz’ Haltung besonders unangenehm und auch erniedrigend für den Berufsstand der Mediziner im Allgemeinen und der Psychiater im Besonderen.[32]

Was für Smith zählte, war nicht die Wahrheit, sondern die Ehre einer Psychiatrie, die sich der Scharlatanerie schuldig gemacht hat. Wie meine Aussage zeigt, sagte ich nichts entwürdigendes über die Medizin. Wohl sagte ich einige wenig schmeichelhafte Dinge über die Psychiatrie und die Praxis, vor Gericht psychiatrische Entschuldigungen für Mörder anzubieten. Die Kommentare von Smith zeigen deutlich, dass Psychiater, wie andere Despoten auch, keinen Widerspruch dulden. Wenn die Person, die ihnen widerspricht, ein Psychiatriepatient ist, dann bestrafen sie ihn mit immer erniedrigenderen Diagnosen und zerstörerischeren Behandlungen. Wenn die Person ein Kollege ist, der im Gerichtssaal aussagt, wo er vor einer unmittelbaren Vergeltung geschützt ist, dann bestrafen sie ihn mit Verleumdungen und damit, sein Verhalten als »unprofessionell« und »schädlich für Patienten« zu bezeichnen.

»Dr. Szasz«, so Smith weiter, »ist Professor für Psychiatrie und dennoch fand ich seine Bemerkungen hinsichtlich der Psychiatrie im Allgemeinen und Schizophrenie im Besonderen für grob vereinfachend, unrealistisch und unwissenschaftlich. … Meiner Meinung nach waren solche Kommentare nicht hilfreich für das Gericht. … Seine Aussage zeigte insgesamt eine schlechte Beherrschung medizinisch-rechtlicher Prinzipien und eine herzlose Missachtung eines kranken Menschen.«[33] Die Anmerkungen von Smith sind ein typisches Beispiel für psychiatrische Arroganz. Eine weiße Person, angeklagt des rassistisch motivierten Mordes an einem schwarzen Kind, wird hier durch psychiatrischen Erlass verwandelt in eine »Kranke«. Und ich werde verleumdet als jemand, der eine »herzlose Missachtung« für die Kranke zur Schau stellen würde. Ein raffinierter Trick, wenn man damit durchkommt. Psychiater sind mit diesem Trick fast dreihundert Jahre durchgekommen, heute erfolgreicher als jemals zuvor.

Der nächste Teilnehmer an diesem Angriff gegen meine Person war Joseph C. Finney, LLB, MD, Loyola University Medical Center, Maywood, Illinois. Bevor ich zu seiner Kritik komme, möchte ich ein paar Worte über den Vorwurf verlieren, ich hätte in unpassender Weise Humor in ein Verfahren eingebracht, das eigentlich ein tristes hätte sein sollen. Ich bin mit einem guten Gespür für Humor gesegnet und durchaus in der Lage, wenn ich will, Witz in beinahe jede Form der Kommunikation, gesprochene oder geschriebene, einzubringen. In diesem Fall begann das Gelächter allerdings – das Transkript beweist es – nicht, weil ich irgendetwas Witziges gesagt hätte. Es begann vielmehr, als ich beschrieb, wie Psychiater Diagnosen für Geisteskrankheiten erfinden und wieder verschwinden lassen, und als ich von den frisch gebackenen Krankheiten Rauchen und Spielen sprach. An diesem Punkt fragte mich der Staatsanwalt Albert Meloling: »Wie wird das behandelt, also wie wird Glücksspiel behandelt? Nimmt man den Leuten einfach das Geld weg?« Dies führte zu Gelächter im Gerichtssaal, begünstigt durch den Richter selbst, der lachend eine humorvolle Antwort auf Melolings Frage anbot: »Gericht: Man gewinnt.« Das rief noch mehr Gelächter hervor. Dann beantwortete ich die Frage: »Stimmt. Das wäre auch meine Empfehlung« und es gab wiederum noch mehr Gelächter. Spott ist selbstverständlich die wirksamste Waffe gegen arrogante Dummheit. Den Psychiatern gefiel das ganz und gar nicht.

Interessanterweise gründete Dr. Finney seine Kritik meiner Zeugenaussage auf einer Psychoanalyse dessen, was er sich als meine persönliche Geschichte imaginierte. »Es kann sein«, erklärte er, »dass die Art des Verbrechens, das Cromer begangen hat – ein von rassistischen Motiven bestimmter Mord – Dr. Szasz wie auch den Staatsanwalt und die Jury gegen die Angeklagte eingenommen hat. … Dieser manifeste Inhalt [das rassistische Motiv] ist ohne Bedeutung für die Frage der Unzurechnungsfähigkeit der Angeklagten, aber es ist nicht bedeutungslos für den Willen von Dr. Szasz, vor Gericht auszusagen. Insbesondere brachte er die Tötung Schwarzer mit der Tötung von Menschen seiner eigenen ethnischen Gruppe in Verbindung und identifizierte sich deshalb mit dem Opfer.« Finney hat vermutlich noch nie etwas von mir gelesen und weiß nichts von meiner prinzipiellen Ablehnung eines Freispruchs wegen Unzurechnungsfähigkeit. Was Finney aber gelang, um mich und meine Aussage in Misskredit zu bringen, war etwas, das vermutlich eine der subtilsten, dennoch überzeugendsten antisemitischen Kommentare in der modernen amerikanischen psychiatrischen Literatur ist.

Finney war eine gute Wahl als kritischer Kommentator. Er mochte nicht, was ich sagte und war glücklich, all seine Einwände artikulieren zu können. »Ich finde es unangemessen, beleidigend und bedenklich, dass Dr. Szasz aussagte, dass Dr. Lundes Gutachten nicht nur falsch sei, sondern so falsch, dass es an Meineid grenze. … Ich bin entsetzt, dass er so etwas gesagt hat.«[34] Entsetzt sein ist kein Ersatz dafür, zu zeigen, wie und warum das, was ich gesagt hatte, nicht der Wahrheit entsprach. Finney ließ die Verhandlung gegen Cromer in seinem Kopf noch einmal stattfinden, und obwohl er sie ebenfalls nicht untersucht hatte, befand er sie für unschuldig des Mordes: »Ich nehme stark an, dass Mrs. Cromer laut unseren Gesetzen wegen Unzurechnungsfähigkeit nicht schuldig war. … Ich stelle fest, dass der Anwalt als Verteidiger von Mrs. Cromer eine schlechte Arbeit geleistet hat … Er hat nicht in ausreichendem Maße die Möglichkeit des Kreuzverhörs genutzt. … Ich bin überzeugt, dass das Urteil angefochten werden kann …«[35] Das Urteil wurde angefochten, wie ich bereits erwähnte, und das Urteil des Gerichts wurde bestätigt.

Als ich vor einigen Jahren die Gelegenheit hatte, Werk und Leben von Rudolf Virchow (1821–1902) zu studieren, stieß ich auf eine Episode in seinem Leben, die mit meiner Weigerung, Darlin June Cramer zu untersuchen, große Ähnlichkeiten aufweist.

Virchow, der Begründer der modernen Pathologie und der wissenschaftlichen Medizin, war offiziell ein Protestant, eigentlich aber war er Atheist. Die Veröffentlichung seines Hauptwerkes Cellularpathologie im Jahre 1858 machte ihn schnell zu einem der berühmtesten Mediziner der Welt. »Ich habe Tausende von Leichen seziert,« erklärte er, »aber keine Seele darin gefunden.« Er war bekannt dafür, seine Studenten während einer Sektion gelegentlich spöttisch zu fragen: »Herr Kandidat, haben Sie schon einmal beim Präparieren eine Seele gefunden?«[36]

Im Jahre 1868 wurde Virchow gebeten, einen »Patienten« zu untersuchen. Er weigerte sich. Ich beschreibe die Umstände und Bedeutung dieser Episode ausführlich in meinem Buch Pharmacracy, aus dem ich hier zitiere: »Im Jahre 1868 sollte eine belgische Novizin auf wundersame Weise drei Jahre ›ohne Nahrung, nur mit Wasser und der Hostie‹ überlebt haben. Virchow wurde vom Vatikan gebeten, die Frau zu untersuchen und eine medizinisches Gutachten über die Behauptung abzugeben. Virchow erkannte, dass es in diesem Fall für ihn nichts zu untersuchen gab und lehnte ab.«[37]

Virchow war überzeugt davon, dass es keine Seele gibt, die den Körper überlebt, und wenn es sie gäbe, dann wäre sie Gegenstand einer Theologie des Wunders, nicht der medizinischen Wissenschaft. Er betrachtete die Behauptung, dass eine junge Frau drei Jahre ohne Nahrung überlebt haben sollte als offensichtliche Absurdität, wenn nicht sogar vorsätzliche Täuschung. Angenommen, er hätte die Frau untersucht. Wonach hätte er suchen sollen?

Ich sehe meine Position in Bezug auf die Diagnose von Geisteskrankheiten in sehr ähnlicher Weise. Ich glaube, dass es Geisteskrankheiten nicht gibt. Keine medizinische Untersuchung kann solch eine erfundene Krankheit feststellen. Ich betrachte die Behauptung des Psychiaters, er könne einen kaltblütigen Mörder untersuchen und dadurch erkennen, dass dieser zum Tatzeitpunkt an einer Geisteskrankheit litt, so schwerwiegend, dass sie seine Schuld für seine Tat annuliert, und dass seine beeidete Aussage dem Gericht mit »wissenschaftlicher Wahrheit« zur Seite stehen würde, als Irrglauben, wenn nicht gar als wohlkalkulierte Lüge. Dass die Person, die solch eine Unwahrheit äußert, aufrichtig glaubt, dass ihre Lüge der edlen Sache, »ein Leben zu retten«, diene, ändert nichts an der Tatsache, dass es sich um eine bewusste Lüge handelt.

Übersetzung: Jan Groth

Das Original dieses Textes mit dem Titel »Psychiatry's War on Criminal Responsibility« erschien in Thomas Szasz, The Medicalization of Everyday Life, Syracuse, NY: Syracuse University Press, 2007Externer Link. Wir danken Thomas Szasz für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.


[1]

Orig.: »To renounce the pains and penalties of exhaustive research is to remain a victim of ill-informed and designing writers, and to authorities that have worked for ages to build up the vast tradition of conventional mendacity.«

[2]

insanity plea und insanity defense sind angelsächsische Rechtsbegriffe, denen im deutschen Recht die Regelungen in den StGB-Paragraphen 20 (Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen) bzw. 21 (verminderte Schuldfähigkeit) noch am nächsten kommen. Im Kern geht es bei insanity defense stets darum, dem Täter die Verantwortung für seine Tat abzusprechen und sie einer angeblich ursächlich verantwortlichen Geisteskrankheit oder psychischen Störung zuzuschreiben. Ein Freispruch wegen Schuldunfähigkeit (umgangssprachlich: Unzurechnungsfähigkeit) hat zumeist eine Einsperrung auf unbestimmte Zeit in der forensischen Psychiatrie zur Folge. d.Ü.

[3]

Zu den Ursprüngen der insanity defense siehe Thomas Szasz, Fatal Freedom: The Ethics and Politics of SuicideExterner Link [1999] (Syracuse: Syracuse University Press, 2002), besonders S. 29–44.

[4]

civil commitment umfasst die richterliche Anordnung einer Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder auch anderer Formen psychiatrischer Zwangsmaßnahmen, denen sich ein Betroffener für einen begrenzten Zeitraum zu unterwerfen hat. d.Ü.

[5]

Im Text wird der heute nur noch im juristischen Bereich gebräuchliche Begriff der Geisteskrankheit synonym zu gleichbedeutenden Begriffen wie »psychische Erkrankung«, »psychische Störung« oder »seelische Erkrankung« verwendet.

[6]

Thomas Szasz, Insanity: The Idea and Its ConsequencesExterner Link [1987] (Syracuse: Syracuse University Press, 1997).

[7]

Siehe Thomas Szasz, Law, Liberty, and Psychiatry: An Inquiry into the Social Uses of Mental Health PracticesExterner Link [1963] (Syracuse: Syracuse University Press, 1989); Psychiatric JusticeExterner Link [1965] (Syracuse: Syracuse University Press, 1988); and; Psychiatric Slavery: When Confinement and Coercion Masquerade as CureExterner Link [1977] (Syracuse: Syracuse University Press, 1998).

[8]

»The psychiatrist in court: People of the State of California v. Darlin June Cromer,« American Journal of Forensic Psychiatry, 3: 5–46, 1982.

[9]

Ann Bancroft, »Darlin June Cromer: 3 children testify at murder trial,« San Francisco Chronicle, December 2, 1980.

[10]

Ebd., Hervorhebung hinzugefügt.

[11]

P. Kuehl, »Tale of racial hate in Bay murder trial,« San Francisco Chronicle, December 4, 1980.

[12]

Ebd.

[13]

»Jail psychologist testifies in trial of Alameda black child’s slayer,« San Francisco Chronicle, December 12, 1980.

[14]

Aric Press and Pamela Abramson, »A law for racist killers,« Newsweek, February 23, 1981, February 23, 1081, pp. 80–81.

[15]

Don Martinez, »Jury finds Cromer guilty of killing boy,« San Francisco Chronicle, January 18, 1981.

[16]

Ebd.

[17]

dt. Thomas Szasz: Recht, Freiheit und Psychiatrie. Wien/München/Zürich: Europaverlag 1978. d.Ü.

[18]

Als Junk Science [wörtl.: Schrottwissenschaft] wird Forschung bezeichnet, der politische, ideologische, finanzielle oder andere unwissenschaftliche Motive zu Grunde liegen, dieser Charakter aber verschleiert werden soll, um (meist hoheitliche) Entscheidungen im Sinne der Geldgeber bzw. Interessenvertreter zu beeinflussen. d.Ü.

[19]

Don Martinez, »Testimony winds up in Cromer trial,« San Francisco Chronicle, January 13, 1981, emphasis added.

[20]

Direct examination ist im Gerichtsprozess nach angelsächsischem Recht die Phase einer Zeugenbefragung, in der der Zeuge von der aufrufenden Partei befragt wird. Suggestive Fragen, die dem Zeugen die Antwort in den Mund legen, sind nicht erlaubt. d.Ü.

[21]

»The Psychiatrist in Court«, S. 9, Hervorhebung hinzugefügt.

[22]

voir dire ist in den U.S.A. unter anderem die Befragung eines Sachverständigen nach seinen Qualifikationen und seinem fachlichen Hintergrund, um seine Eignung als (potentieller) Gutachter zu überprüfen.

[23]

Ebd., S. 12, Hervorhebung hinzugefügt.

[24]

Ebd., S. 14.

[25]

Ebd., S. 18–19, Hervorhebung hinzugefügt.

[26]

Ebd., S. 19.

[27]

Ebd., S. 20–21.

[28]

Ebd., S. 26–27.

[29]

Seth Rosenfeld, »Conviction of child-killer upheld: Woman strangled tot out of racial hatred,« San Francisco Examiner, 29. März 1990, 1990, S. A8.

[30]

Nina Martin, »Conviction challenged in 1981 racial slaying: Prosecutor inflamed jurors, appeal says,« San Francisco Examiner, 17. Januar 1990, S. A1.

[31]

Ebd., S. 7.

[32]

Ebd., S. 35–36, Hervorhebung hinzugefügt.

[33]

Ebd., S. 37, Hervorhebung hinzugefügt.

[34]

Ebd., S. 44.

[35]

Ebd., S. 45–46.

[37]

Thomas Szasz, Pharmacracy: Medicine and Politics in AmericaExterner Link [2001] (Syracuse: Syracuse University Press, 2003).


Letzte Aktualisierung am 29.05.2018
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